40 Jahre nach '68„Die ganze Nazi-Scheiße von gestern”

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Anläßlich des 19. Bundesparteitages der FDP diskutierte am 30. Januar 1968 Professor Dr. Ralf Dahrendorf (2.v.r.) vom FDP-Bundesvorstand mit dem SDS-Chefideologen Rudi Dutschke (links erhöht) vor mehreren tausend Zuhörern in Freiburg. (Bild: dpa)

Anläßlich des 19. Bundesparteitages der FDP diskutierte am 30. Januar 1968 Professor Dr. Ralf Dahrendorf (2.v.r.) vom FDP-Bundesvorstand mit dem SDS-Chefideologen Rudi Dutschke (links erhöht) vor mehreren tausend Zuhörern in Freiburg. (Bild: dpa)

Epochenjahr 1968: Zum 40. Mal jähren sich Studentenproteste, Massendemonstrationen und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Zum Start einer Rundschau-Serie hier ein Überblick.

Rektoratsübergabe in Hamburg: Professoren im Talar, davor zwei Studenten mit einem Transparent. Der Text, gedichtet vom DKP-Mitglied Peter Schütt, spielt auf Hitlers „tausendjähriges Reich“ an: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren.“

1966, 1967, 1968 &

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So entstand eines der berühmtesten Fotos jener Proteste, die mit der Jahreszahl „1968“ verbunden werden. Schönheitsfehler: Aufgenommen wurde es am 9. November 1967.

Auch ihren Märtyrer gewann die deutsche Studentenbewegung 1967 mit dem Tod Benno Ohnesorgs. Schon 1966 hatte der Kölner AStA-Chef Klaus Laepple einen Sitzstreik gegen KVB-Preiserhöhungen organisiert.

1968 brachte dann das Attentat auf Rudi Dutschke, die Osterkrawalle, den Pariser Mai. Wegen so extremer Szenen ist „1968“ zur Chiffre geworden - Chiffre für mindestens fünf Jahre, 1965 bis 1969. Ja, 1969: Besetzungen hielten ebenso an wie „Go Ins“, mit denen Professoren am Unterricht gehindert wurden. Im Januar 1969 ließ Theodor Adorno das besetzte Frankfurter Institut für Sozialforschung räumen. An der Freien Universität Berlin stand der Romanist Walter Pabst wegen seiner angeblich braunen Vergangenheit am Pranger; Universitätspräsident Rolf Kreibich persönlich wohnte einem „Go In“ bei.

Die Themen

Der vermeintliche „Fall“ Pabst und der Slogan vom tausendjährigen Muff markieren ein wichtiges Thema in Deutschland: „die ganze Nazi-Scheiße von gestern“ (Flugblatt von 1967).

Ähnlich spezielle Themen gab es anderswo, Rassendiskriminierung in den USA etwa.

Länderübergreifend war das Thema Vietnam. Proteste reichten von der Ablehnung des Kriegsdienstes bis zum Berliner Vietnamkongress 1968, auf dem Geld für Waffenkäufe gesammelt wurde: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) sah in Vietnam einen Stellvertreterkrieg gegen die USA und den ganzen Westen. In Frankreich begannen Proteste an der Universität Paris-Nanterre. Es ging etwa um das Verbot, in Wohnheimen nach 23 Uhr Besuch zu empfangen. Warum die Regierung die sexuellen Probleme der Jugend nicht erwähne, fragte der deutsche Student Daniel Cohn-Bendit den französischen Jugendminister; der riet: „Wenn Sie sich abreagieren wollen, dann springen Sie doch ins kalte Wasser!“ Was Cohn-Bendit an die Hitler-Jugend denken ließ - sexuelle und politische Befreiung waren eins.

Spezifisch deutsch war der Kampf gegen die „Notstandsgesetze“, Verfassungsänderungen für den Kriegs- und Katastrophenfall, die seit 1958 (!) angestrebt wurden. Erst die Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) hatte eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und konnte ans Durchsetzen denken - Steilvorlage für die „Außerparlamentarische Opposition“.

Die Akteure

So gut wie nirgendwo - eine Ausnahme war Italien - gab es „die“ gemeinsame Studentenbewegung. Der Protest wurde von Gruppen und Grüppchen getragen. In Japan kamen sogar 44 Menschen bei Flügelkämpfen ums Leben. So etwas, immerhin, kam in Europa nicht vor.

Der SDS hatte zu seinen Glanzzeiten 2500 Mitglieder - bei 300 000 deutschen Studenten. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierte der antiautoritäre Flügel vor sowjetischen Vertretungen, Linientreue liefen zur DKP über.

Dieter Kunzelmann, der die „Kommune I“ mitbegründet hatte, wurde aus dem SDS ausgeschlossen. Diese Kommune, sozialistische Alternative zur bürgerlichen Familie, beschränkte sich bald auf Sex, Musik und Drogen. Das Paar Rainer Langhans und Uschi Obermaier wurde zu Popstars der Bewegung. Unvollständig wäre das Bild ohne die „Republikanischen Clubs“ kritischer Bürger, hervorgegangen aus der „Novembergesellschaft“ um Szene-Anwalt Horst Mahler. Der verteidigte auch die SDS-Sympathisantin Beate Klarsfeld, die Kanzler Kiesinger wegen seiner NS-Vergangenheit geohrfeigt hatte.

In Frankreich unterstützten Gewerkschaften die Studentenbewegung durch Streiks. Das gab es in Deutschland nicht. Am 11. Mai 1968 demonstrierte der SDS in Bonn gegen die Notstandsgesetze. Der DGB tat es auch - in Dortmund.

Die Gewaltfrage

Im Mai 1968 hatte der SDS den Zenit seiner Bedeutung überschritten. Die Notstandsgesetze wurden verabschiedet; der charismatische Dutschke fehlte, schwer verletzt durch das Attentat eines Rechtsextremisten am Gründonnerstag 1968.

Dieses Attentat löste europaweit Unruhen aus. In München starben zwei Menschen durch Wurfgeschosse von Demonstranten. Im „Spiegel“ kommentierte Rudolf Augstein: „Die zwei Toten der Ostertage gehen auf das Konto des SDS, daran gibt es keinen Zweifel.“ Der „Spiegel“, der sechs Millionen Leser erreichte und unter ihnen mehr als die Hälfte aller deutschen Studenten, hatte bis dato einen Starkult um Dutschke betrieben.

Augsteins Wende kam spät. Schon 1967 hatte Jürgen Habermas auf Andeutungen Dutschkes zur Gewaltfrage hingewiesen und ihm „linken Faschismus“ vorgeworfen. Die „Kommune I“ reagierte 1967 auf eine Brandkatastrophe in einem Brüsseler Kaufhaus mit einem Flugblatt über „jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen“.

Das blieben geschmacklose Gedankenspiele. Ernst machten andere. Andreas Baader, damals 34, steckte mit Komplizen am 2. April 1968 zwei Frankfurter Kaufhäuser an. Keine Spaßguerilleros gingen in den Untergrund - allenfalls planten sie ein „Puddingattentat“ auf den US-Vizepräsidenten -, sondern ältere Intellektuelle wie Mahler (Jahrgang 1936) oder Ulrike Meinhof (Jahrgang 1934). Meinhof tat das 1970, wenige Monate, nachdem sie an der FU Berlin eine Agitationsschulung für Linksradikale hatte halten dürfen.

Echo und Folgen

Der Fall Meinhof zeigt: Über mangelndes Wohlwollen durften sich die „68er“ nicht durchweg beklagen. Massive Polemik kam zwar von den Zeitungen des Springer-Konzerns; das aber nicht typisch für die Medien. Gewalt aber kostete Sympathien. 92 Prozent der West-Berliner lehnten nach den Osterkrawallen 1968 laut Umfrage gewaltsamen Protest ab.

Harsch reagierten attackierte Professoren. Etwa der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch, der 1967 eine Gedenkrede auf Ohnesorg gehalten hatte, die „68er“ später aber „Gesinnungskriminelle“ nannte. Oder Joseph Ratzinger: Der Theologe sah sich als Dekan in Tübingen „Sit-ins“ und „Go-ins“ gegenüber und wechselte 1969 entnervt nach Regensburg. Seither lässt er nicht ab, „den Psycho-Terror“ der 68er zu verurteilen, „die Hemmungslosigkeit, mit der man jede moralische Überlegung als bürgerlichen Rest preisgeben konnte“.

Nach dieser Lesart prägt „1968“ unsere Gesellschaft bis heute. Ist es so? Werteverfall oder Liberalisierung - was setzten die „68er“ wirklich durch? Wo artikulierten sie nur allgemeine Trends? Unmittelbare Folgen hatte „1968“ für die Hochschulen. Land für Land wurde der Einfluss der Professoren gestutzt. Eine Fortsetzung fand „1968“ im Frankfurter Häuserkampf der 70er Jahre mit Cohn-Bendit und einem gewissen Joseph Fischer. Beide fanden später ihre Heimat bei den Grünen.

Horst Mahler dagegen wandelte sich vom Terroristen zum Rechtsextremisten. Und was treibt Peter Schütt, Autor des Muff-Slogans? Der ist ganz konservativ geworden und nach einer Zeit im Schoß der katholischen Kirche zum Islam konvertiert.

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