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50 Jahre Contergan

Lesezeit 5 Minuten
Szene aus dem Contergan-Film „Eine einzige Tablette“

Szene aus dem Contergan-Film „Eine einzige Tablette“

Mittwoch und Donnerstag zeigt die ARD den Film "Contergan: Eine einzige Tablette". Das Schlafmittel versprach 1957 Schwangeren eine ruhige Nacht. Es wurden 5000 schwer behinderte Kinder geboren. Brigitte Gerards lebt mit den Folgen.

„Möchten Sie einen Kaffee?“ Brigitte Gerards greift zum Kaffeepulver. Die Einrichtung unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von handelsüblichen Küchen. „Naja, die Hängeschränke sind eher zur Zierde“, gibt die 46-Jährige zu. Beim näheren Hinschauen sind auch die unteren Schränke anders. Der Kühlschrank ist neben dem Herd, so dass er auch kraftvoll mit den Beinen geschlossen werden kann. Und statt Regalböden gibt es hauptsächlich Schubladen. „In Schränken müsste ich ja vorne alles ausräumen, um an die hinteren Gegenstände zu gelangen.“ Brigitte Gerards hat verkürzte Arme, keine Daumen und keine Handgelenke. Sie ist ein Opfer des Medikaments Contergan, das einen Monat nach ihrer Geburt vom Markt genommen wurde (siehe unten).

Im Kindergarten

gestärkt worden

Im Oktober 1961 kam Brigitte Gerards als drittes Kind ihrer Eltern in Köln auf die Welt. „Es war für sie bestimmt ein Schock, und auch sehr schwierig. Aber sie haben es sich nie anmerken lassen“, blickt sie heute zurück. Mit anderen Betroffenen gründeten ihr Vater und ihre Mutter einen Elterninitiativkindergarten, den contergangeschädigte und gesunde Kinder gemeinsam besuchten. „Hier wurde eine sehr gute Basis gelegt“, sagt Brigitte Gerards heute.

An Probleme mit anderen Kindern kann sie sich nicht erinnern. Eher Lehrer, die nicht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten, hätten sie ihre Behinderung spüren lassen. Zum Beispiel der Rektor der Grundschule, der einfach nicht beachtete, dass das Diktat für sie viel zu schnell war. Oder später, nach ihrem erfolgreichen Realschulabschluss, der Mitarbeiter der Berufsberatung: „Wollen Sie nicht lieber in eine beschützende Werkstatt, hat er mich damals gefragt.“ Für die selbstbewusste Frau ein Ding der Unmöglichkeit. Ihr Platz ist mitten in der Gesellschaft, das stand für sie fest. „Man kann nicht erwarten, dass an jeder Ecke Hilfe steht. Man muss selbst etwas tun“, sagt sie. Die damals 18-Jährige machte eine Ausbildung als Landesassistenten-Anwärterin beim Landesverband Rheinland, schlug nach der Ausbildung den mittleren Dienst als Beamtin ein. Hier kümmerte sie sich jahrelang um die Einziehung der Ausgleichsabgabe, die Betriebe zahlen, die keine Schwerbehinderten beschäftigen.

Aus dem persönlichen Umfeld schlug ihr manchmal die Einstellung entgegen, sie müsse besser sein als Nichtbehinderte, um das Gleiche zu erreichen. Das ärgert sie bis heute. Sie will nicht besser sein, sondern so genommen werden, wie sie ist - und möglichst viel alleine schaffen. Mit 18 machte sie ihren Führerschein, ihr Schwager baute ihr extra eine Verlängerung für den Schaltknüppel. Die Fahrprüfung machte sie in einem Automatikwagen, der Prüfer wollte ihr nicht glauben, dass sie auch eine Gangschaltung bedienen könnte. Also machte sie die komplette Prüfung noch einmal.

Sie lernte schwimmen, nahm an Wettkämpfen teil. Sechs Jahre lang hat sie geritten, sie lernte Skifahren, machte einen Tennis-Grundkurs. Ihre Geschwister nahmen sie mit zum Kanuclub. Dort lernte sie ihren Ehemann kennen. 1988 zogen die beiden nach Bornheim-Sechtem, wo sie heute noch leben. 1989 gaben sie sich das Jawort. „Toll, dass sie so eine Frau heiraten“ musste sich ihr Mann einmal anhören. „Da musst Du dich dran gewöhnen“, hat sie ihm erklärt. Auch daran, dass die Leute schauen. Die 1,52 Meter große Frau („immerhin zwei Zentimeter größer als das Höchstmaß für einen Kindersitz“) nimmt vieles mit Humor, hat sich über die Jahre auch einen Schutzschild zugelegt, meistert das Leben mit der Behinderung gelassen. „Habe ich eine andere Wahl?“

Die täglichen Rückenschmerzen, die Hüftdysplasie, die Schmerzen im Nacken und in den Schultern merkt man ihr äußerlich nicht an. Wütend werden kann sie aber, wenn Menschen offensichtlich rücksichtslos sind - oder dumme Kommentare loslassen. „Einmal bemerkte ein Kind, dass ich keine Daumen habe. Darauf sagte die Mutter zu ihm, die hat sich die Frau wohl weggelutscht. Da habe ich sie angesprochen und gesagt, wie man seinem Kind so einen Quatsch erzählen könne.“

Die Kinder hielten

sich an ihr fest

Für ihre eigenen Kinder ist die Behinderung der Mutter ganz alltäglich. Als man den Gerards versicherte, dass die Behinderung nicht vererbbar sei, entschieden sie sich bewusst für Kinder. Sohn Thomas kam 1991 auf die Welt, drei Jahre später wurde Heike geboren. Probleme? Brigitte Gerards winkt ab. „Wenn sie vor Entscheidungen stehen, dann packen sie es irgendwie“, sagt sie. Sie mussten eben länger suchen, bis sie ein Kinderbett fanden, bei dem man die Gitterstäbe wegklappen konnte, denn von oben hineingreifen konnte die Mutter nicht. Aber, sagt die 46-Jährige, es sei als ob Kinder die Situation spüren würden: Schon ganz früh hätten sie sich an ihr festgehalten, hätten ihr die Hände um den Nacken gelegt, wenn sie sie nicht heben konnte.

Seit Mai ist Brigitte Gerards in Pension. Die Dreifachbelastung Familie, Haushalt und Beruf war zu viel für ihre Gesundheit. Jetzt engagiert sie sich im Verband für Contergangeschädigte. Auch wenn sie noch so stark ist, blickt sie doch realistisch in die Zukunft: „Es ist wichtig, untereinander Kontakt zu halten, denn die mobilste und gesündeste Zeit haben wir hinter uns.“

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