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TherapienGegen die Schwermut im Alter

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Ältere Menschen sind oft schwermütig.

Ältere Menschen sind oft schwermütig.

Mathilde Timp war 64 Jahre alt, als sich die Depression in ihr Leben schlich. Zuvor war ihr Alltag ausgefüllt - mit der Arbeit, den Enkeln, dem Lebensgefährten. Jetzt war sie in Rente, die Enkel groß, der Lebensgefährte tot. Mathilde Timp hatte Zeit. Zu viel Zeit.

Zum Gefühl, überflüssig geworden zu sein, kam eine schmerzhafte Nervenentzündung. Timp, allein, krank, begann zu grübeln. Diffuse Befürchtungen wurden zu handfesten Ängsten, jeder Einkauf zu einer Nervenprobe: Sie hatte Angst, vor die Tür zu gehen, Angst, mit der Bahn zu fahren, Angst, es könnte Schlimmes passieren unterwegs. "Ich stand in der Jacke am Fenster und habe mich nicht rausgetraut", erinnert sie sich. Dazu musste sie weinen, ohne sagen zu können, warum. Da war einfach diese grenzenlose, alles erdrückende Traurigkeit.

Hausärzte sind die erste Anlaufstelle - sie ordnen körperliche und seelische Symptome ein und vermitteln an Therapeuten oder Kliniken.

In Krisenfällen helfen psychologische und psychosoziale Beratungsstellen, Ehe- und Familienberater, sozialpsychiatrische Dienste.

Speziell auf Ältere sind gerontopsychiatrische Fachberatungen eingestellt, die Beratung ist kostenlos. Die Telefonseelsorge kann ersten Rat bieten: Telefon: 0800/111 0 111/222

Gedächtnissprechstunden helfen bei der Abgrenzung zu Demenz, Adressen unter www.hirnliga.de

Weitere Informationen auch unter: www.depressionsliga.de und www.deutsche-depressionshilfe.de.

Früher hätte man schnell von einer "Altersdepression" gesprochen. Wäre davon ausgegangen, dass es ein Stück weit normal ist, im Alter schwermütig zu werden. Heute betrachten Mediziner und Psychologen die Depression bei Älteren als die gleiche Erkrankung, die Jüngere befällt. Das bedeutet: Es ist kein Leiden, das man still erdulden muss. Auch bei älteren, selbst bei alten Menschen lassen sich Depressionen behandeln.

Mathilde Timp aber sagte, wenn ihr Hausarzt sie fragte, wie es geht: Gut. "Erst heute weiß ich, wie schlecht es mir eigentlich ging", sagt sie rückblickend. Sie sitzt in einem Büro der Tagesklinik der Alexianer in Köln-Rodenkirchen. Die zurückhaltende Frau wirkt jünger als ihre 65 Jahre. Sie spricht leise und lächelt viel. Im Sommer 2011 überwies ihr Hausarzt sie in eine psychiatrische Klinik - zehn Kilo hatte sie abgenommen. "Das war meine Rettung", sagt sie. Zwei Monate blieb sie dort, danach kam sie in die Tagesklinik - jeden Tag, von 8.30 bis 16 Uhr, neun Wochen lang.

Hier wird mit den Patienten zwar auch therapeutisch gearbeitet, vor allem aber wird ihren Tagen wieder Struktur verliehen. Ein "Krankenhaus ohne Käseglocke" nennt es Susanne Keller, gerontopsychiatrische Fachberaterin: "Es gibt einen Alltag, mit Streit zu Hause, Einkäufen, dem notwendigen Gang zur Post."

Einsamkeit begünstigt die Krankheit

Mathilde Timp war eine der jüngeren Patientinnen, der Altersschnitt liegt bei 70 Jahren, auch 100-Jährige wurden schon behandelt. Die Patienten haben mittelgradige bis schwere Depressionen, Angststörungen, Psychosen, wahnhafte Störungen und Demenzen. Geschickt werden sie meist von ihren Hausärzten, über die hauseigene Ambulanz oder von einer Station. Sie bleiben in der Regel sechs bis acht Wochen, manche auch ein Dreivierteljahr.

Bei Älteren gehören Depressionen zu den häufigsten psychischen Störungen. Die Lebensumstände, die Alte oft ertragen müssen - Einsamkeit, Krankheit, Todesfälle im Familien- und Freundeskreis -, begünstigen die Krankheit. Ältere Menschen sind deshalb aber nicht häufiger betroffen als jüngere: In der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren leiden etwa 15 Prozent der Deutschen an einer Depression, in der Altersgruppe um 65 sind es etwa zehn Prozent, ab 70 steigt der Anteil wieder.

Größer ist im Alter indes die Suizidgefahr: Jeder dritte Selbstmord in Deutschland wird von einem Menschen über 65 verübt, Ursache sind häufig Depressionen. Besonders Männer sind gefährdet: Sie leiden aufgrund ihres Männlichkeitsbildes am meisten unter Einbußen, gleichzeitig fällt es ihnen schwer, darüber zu sprechen.

"Das Alter selbst ist aber kein psychopathologisches Problem", sagt Martin Hautzinger, der als Professor für Klinische Psychologie an der Universität Tübingen depressive Störungen im Alter erforscht. Problematisch sei nur die Sichtweise darauf: Oft stünden körperliche Erkrankungen im Vordergrund. Bei älteren Betroffenen wird eine Depression zudem schnell mit einer beginnenden Demenz verwechselt - auch depressive Menschen neigen etwa zu Gedächtnisproblemen. "Das erfordert eine umfangreichere Diagnose", sagt Hautzinger. Ein weiteres Problem: Etwa die Hälfte der über 65-Jährigen, die erkranken, leiden zum ersten Mal an einer Depression. Ihnen fällt es schwer, die Symptome einzuordnen und Hilfe zu suchen.

Zum Teil finde man zudem noch die Haltung, dass sich eine Therapie bei Alten nicht mehr lohne - sowohl bei älteren Ärzten als auch bei Angehörigen, sagt Hautzinger. Studien haben jedoch längst belegt, dass ältere genauso von Psychotherapien wie der Kognitiven Verhaltenstherapie profitieren wie jüngere Menschen.

Aufnahme von Wirkstoffen bei Älteren verändert

Die Therapie müsse eben die Lebensumstände berücksichtigen, erklärt Hautzinger: "Mit 75 hat man andere Themen als mit 35." Chronische Krankheiten, die immer mehr Einschränkungen mit sich bringen, stünden häufig im Mittelpunkt - und die eigene Endlichkeit. "Die Frage, was ich mit der mir verbleibenden Reststrecke mache, stellt sich selbst dann, wenn ich nur noch ein Jahr habe: Nutze ich das oder warte ich nur noch ab?", sagt Hautzinger.

Schwieriger sei die Medikation: Ältere Menschen nehmen oft viele Medikamente, Ärzte müssen sich abstimmen, um Wechselwirkungen zu vermeiden. Zudem sind Körperzusammensetzung, Stoffwechsel und damit die Aufnahme der Wirkstoffe bei Senioren verändert - es gilt, die Dosierung anzupassen, Nebenwirkungen im Auge zu behalten. Hautzingers Wunsch: Dass die Depression auch in der Wahrnehmung der Älteren keine Macke ist, sondern eine behandelbare Erkrankung, "auch mit 85 noch". So scheint es auch zu kommen: "Das Bewusstsein, dass man sich helfen lassen kann, wandert in diese Altersgruppe", sagt Professor Norbert Schmacke, Versorgungsforscher am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Uni Bremen. Dass Ältere lange große Scheu hatten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei verständlich: "Es fällt immer schwer, zu sagen: Ich weiß nicht, was los ist, bin ich verrückt? In Deutschland hatte das aber früher ganz furchtbare Folgen."

Mathilde Timp geht offen um mit ihrer Krankheit. "Ich weiß nicht, ob es als jüngerer Mensch einfacher ist", sagt sie, "aber als älterer hat man schwer zu kämpfen." Und fügt hinzu: "Ich hätte nicht gedacht, dass es mir mal wieder so gut geht." Dafür nimmt sie bis heute Medikamente, und kommt fast jeden Tag ins Sozialpsychiatrische Zentrum in Rodenkirchen. Sie frühstückt mit anderen, nutzt die Ausflugsangebote, macht einen Trommelkurs. "Ich weiß so, wofür der Tag da ist", sagt sie. Einmal in der Woche besucht sie sogar die Tagesklinik - als Unterstützung für den Singkreis. Sie hat ihre Gitarre aus dem Keller geholt, nach 40 Jahren, und wieder begonnen zu spielen. Jetzt schaut sie konzentriert auf ihr Notenblatt. Während um sie herum zehn Patienten mehr oder weniger engagiert in "Im Frühtau zu Berge" einstimmen, blickt sie kurz auf. Sie lächelt.

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