Schwere Vorwürfe im Fall Tanja Gräff„Jemand hat Tanja einfach weggeworfen“

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Juni 2007: Junge Leute betrachten in der Trierer Innenstadt ein Vermissten-Plakat, das eine Privatinitiative aufgehängt hat.

Juni 2007: Junge Leute betrachten in der Trierer Innenstadt ein Vermissten-Plakat, das eine Privatinitiative aufgehängt hat.

Trier – Seit einer Woche sind alle Bewältigungsmechanismen, die sich Waltraud Gräff in den vergangenen acht Jahren aufgebaut hat, Makulatur. "Jede Nacht kommt nun dieses Bild: Jemand hat meine Tochter weggeworfen, einfach weggeworfen und verrotten lassen wie ein Stück Vieh."

Hinter einem sechsstöckigen Apartmenthaus im Trierer Ortsteil Pallien fanden Forstarbeiter am vergangenen Montag Teile eines Skeletts und Gegenstände, die eindeutig der im Juni 2007 verschwundenen 21-jährigen Studentin Tanja Gräff zugeordnet werden können. Der Eigentümer des Gebäudes hatte die Rodung am Fuß des Steilhangs aus Buntsandstein veranlasst, weil er befürchtete, dass die morschen Bäume Schäden anrichten könnten.

Die Ermittlungsbehörden geraten nun in Erklärungsnöte, weil der gesamte "rote Felsen", wie die Trierer den 50 Meter hohen Hang am Moselufer nennen, in den vergangenen Jahren angeblich akribisch abgesucht worden war. Inzwischen bildete die Kripo eine 20-köpfige Sonderkommission, die noch einmal alle bislang gesammelten und in 200 Aktenordnern gelisteten Spuren überprüfen soll. Die 58-jährige Mutter der Toten hat allerdings kein großes Vertrauen mehr in die Arbeit der Trierer Ermittlungsbehörden. "Ich wiederhole meinen alten Wunsch: Mir wäre es nach den bisherigen Erfahrungen lieber, das Mainzer Landeskriminalamt würde den Fall übernehmen."

Ähnlich äußert sich auch Waltraud Gräffs Anwalt Detlef Böhm, der auf einige "nicht nachvollziehbare und völlig inakzeptable Nachlässigkeiten" stieß. Insbesondere kritisiert Böhm, dass zwei Spuren viel zu früh zu den Akten gelegt worden seien. Auch sei das Umfeld der neuen Clique der Studentin nicht ausreichend überprüft worden.

Für Waltraud Gräff ergeben sich aus den aktuellen Mitteilungen und Mutmaßungen der Staatsanwaltschaft mehr Fragen als Antworten: "War Tanja vielleicht schon tot, als man sie den Hang hinabwarf? Oder lebte sie noch nach dem Sturz? Oder ist sie gar nicht herabgestürzt, sondern wurde am Fuß des Hangs abgelegt?" Die Rechtsmediziner der Universität Mainz untersuchen derzeit das Skelett. Das Ergebnis steht noch aus. Aber aus Mainz war inzwischen zu erfahren: Zumindest der Schädel ist unversehrt.

Vor acht Jahren, am Tag vor Fronleichnam, am Mittwochabend des 6. Juni 2007, fuhr Waltraud Gräff ihre Tochter Tanja nach Trier-Tarforst, das Universitätsviertel im Osten der Stadt. Dort ist die 21-jährige Lehramtsstudentin verabredet, zum "Vorglühen" in einer WG, mit ihrer neuen Clique. Später will man noch weiterziehen, ans westliche Ende der Stadt, zum Sommerfest der Fachhochschule. Die FH liegt auf einem waldreichen Hochplateau oberhalb des Flusses, der die älteste Stadt Deutschlands in zwei Hälften teilt. Tanja Gräff trägt an diesem Abend T-Shirt, Jeans, Turnschuhe und eine Umhängetasche, die sie sich aus einem Hawaii-Hemd ihres Vaters genäht hat.

Tanja ist während der Fahrt bester Laune. Erstens ist sie meistens guter Laune. Zweitens genießt das alljährliche Sommerfest der FH bei jungen Leuten weit über die Grenzen Triers hinaus Kultstatus: Sechs Live-Bands, mehrere Bühnen, diesmal werden (dank der hochsommerlichen Temperaturen) mehr als zehntausend Besucher erwartet. In Trier-Tarforst springt Tanja um 20.30 Uhr aus dem Auto, winkt ihrer Mutter und verschwindet. Für immer. Waltraud Gräff sieht ihre Tochter nie wieder.

Die Polizei geht bald von einem Verbrechen aus. Aus den verschiedensten Kommissariaten der Trierer Kriminaldirektion werden 60 Ermittlungsbeamte der "SoKo FH" zugeordnet. Hundertschaften der Bereitschaftspolizei durchkämmen die Wälder rund um das FH-Gelände. Taucher und Boote mit Sonar-Technik überprüfen die Mosel sowie die Seen in der Umgebung, auch jenseits der nahen Staatsgrenze im Herzogtum Luxemburg.

Um 4.01 Uhr und um 4.13 Uhr benutzt Tanja auf dem FH-Gelände ihr Handy, ergibt später die Funkzellenauswertung. Danach ist das Handy tot. Jemand hat es ausgeschaltet. Und nach 4.13 Uhr will niemand der zehntausend Festbesucher Tanja Gräff gesehen haben.

Ein halbes Jahr nach Tanjas Verschwinden wird die 60-köpfige "SoKo FH" durch eine 15-köpfige Ermittlungskommission ersetzt. Am 16. Januar 2009 wird auch die "EK FH" aufgelöst, die Akten gehen zurück an das K11, das für Kapitaldelikte zuständige Kommissariat. Im Abschlussbericht der "EK FH" gipfelt der aktuelle Erkenntnisstand nach 19 Monaten in dem Satz: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es zwischen 4.15 Uhr und 4.45 Uhr zu einem unbekannten Geschehensablauf gekommen." Bernd Michels, damals Leiter der SoKo, drückte es so aus: "Wir suchen nicht die Nadel im Heuhaufen - wir suchen den Heuhaufen."

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