Die Republik im Ausnahmezustand

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Der von der RAF entführte Hanns-Martin Schleyer (Archivfoto vom 13.10.1977).

Der von der RAF entführte Hanns-Martin Schleyer (Archivfoto vom 13.10.1977).

Sie haben sich hochgearbeitet und sind angekommen auf der Ebene, die die höchste Anerkennung bedeutet. Teil eines Kommandos sein. Handeln, dass die Fundamente der Gesellschaft erschüttert werden. „Dieses System ist so verhärtet, dass man es nur mit Gewalt knacken kann“, hat Gudrun gesagt, und wer daran glaubt, der weiß, was er zu tun hat. Gudrun, Andy, Jan. Nach Ulrike Meinhofs Tod sind die Ensslin, sind Andreas Baader und Jan-Carl Raspe die verbliebenen Köpfe der RAF. Die Stammheimer. Mit Hilfe ihrer Anwälte schmuggeln sie problemlos Botschaften aus dem „Hochsicherheitstrakt“. Eine davon erhält die Kerntruppe der „zweiten Generation“ wenige Tage vor dem 5. September 1977. Handelt endlich, sonst nehmen wir die Sache selbst in die Hand. Handelt, sonst seid ihr nicht würdig, euch RAF zu nennen.

Hanns Martin Schleyer weiß, dass er ganz oben auf der schwarzen Liste steht. Er weiß es vom BKA. Im Kanzleramt, im Innenministerium weiß man es. Buback starb im April, Ponto im Juli. Schleyer lässt sich nicht einschüchtern. Sein Fahrer Heinz Marcizs hat immer ein komisches Gefühl, aber er fährt, er hat ein gutes Verhältnis zu seinem Chef. Drei Polizisten bewachen den Arbeitgeberpräsidenten.

Zertrampelte Spuren

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Die Kolonne macht sich am Nachmittag des 5. September vom Oberländer Ufer in Köln auf den Weg in Richtung Westen. Zur selben Zeit sagt angeblich ein RAF-Mitglied in einer Telefonzelle „Mendocino“. So hieß ein paar Jahre zuvor ein Hit von Michael Holm. Kurz danach sind vier Leute im Stadtteil Braunsfeld bereit. Ein Paar mit einem Kinderwagen, ein Duo im Mercedes. Sie werden um kurz vor 17.30 Uhr die Kolonne in der Vincenz-Statz-Straße zum Anhalten bringen, werden mehr als 100 Schüsse abgeben und dabei Fahrer und Bewacher töten, dann Schleyer in einen VW-Bus zerren, den sie in einer Tiefgarage abstellen, um in einen Mercedes zu wechseln. Eine halbe Stunde später, bevor die Ringfahndung in Gang kommt, werden sie über Hürth in ihr Versteck in Erftstadt-Liblar gelangt sein. Dann ist der kalkulierte Ausbruch hemmungsloser Gewalt vorüber.

Fahrer Heinz Marcizs ist seit dreieinhalb Stunden tot, da sagt sein 17-jähriger Sohn zu Journalisten am Telefon: „Wir wollen doch nicht hoffen, dass ihm etwas passiert ist.“ Seine Mutter erfährt es zur selben Zeit am Tatort. Dort läuft jeder herum, der will, und zertrampelt Spuren.

Am nächsten Tag berichtet die Rundschau über drei Seiten. In einem kleinen Text auf einer anderen Seite heißt es, des Stuttgarter Schauspieldirektor Claus Peymann sammele Spenden für die inhaftierte Gudrun Ensslin, damit sie ein künstliches Gebiss bekommen kann.

Die RAF fordert die Freilassung von elf Terroristen, die in ein Land ihrer Wahl ausfliegen sollen. Keine Fahndung! fordern sie, sonst werde Schleyer, „dieser fette Magnat der internationalen Wirtschaftscreme“, sofort erschossen. Beim Kanzler in Bonn muss der Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, nicht lange werben. Man wird nicht nachgeben. Die Erfahrung im Fall Lorenz ist Helmut Schmidt genug. Lässt man Terroristen frei, kommt der Terror zurück. Herold bildet eine Soko und verbreitet Optimismus. Ein wenig Zeit nur müsse man gewinnen, dann werde man den Entführern auf die Spur kommen. Es folgt eine Serie von Misserfolgen.

Polizisten durchsuchen Hunderte Wohnungen in Köln und Umgebung. Das Regierungsviertel im benachbarten Bonn sieht so aus, wie die RAF das ganze Land malt: Polizeistaat. Derweil spielt Schleyer, so wird später kolportiert, mit einer Bewacherin Monopoly. Und muss lachen, als das Kapitalistenschwein beim Geldscheffeln verliert.

Eine Woche nach Schleyers Entführung veröffentlicht die „Bild“-Zeitung eine Meinungsumfrage: 67 Prozent der Deutschen sprechen sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus.

Nach elf Tagen wird es dem Kommando in Liblar zu heiß. Schleyer wird nach Den Haag gebracht. Als der gesuchte Knut Folkerts in den Niederlanden einen Polizisten erschießt, heißt es von den Behörden: Keine Verbindung zum Fall Schleyer erkennbar. Weil die Terroristen wissen, dass das Taktik sein kann, wird Schleyer nach Brüssel gebracht. Anfang Oktober reisen RAF-Leute, darunter Brigitte Mohnhaupt, nach Bagdad. Dort macht ihnen die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ ein Angebot: Wir entführen eine Lufthansa-Maschine, erpressen die Freilassung eurer und unserer Leute.

Der hessische CDU-Chef Alfred Dregger fordert ein „Jagdkommando“ für Terroristen, eine Eliteeinheit, „einen Kreis von Vertrauensleuten, freigestellt von bürokratischen Einengungen“.

Am 10. Oktober erschüttert eine Botschaft von Schleyer, die über den Schweizer Vermittler Payot eingegangen ist, den Krisenstab in Bonn: Eine Entscheidung wird dringend, erklärt er. BKA-Chef Herold will weiter Zeit schinden, aber die Zuversicht schwindet. Im Kanzleramt werden auf ausdrücklichen Wunsch von Helmut Schmidt auch die undenkbaren Modelle durchdacht. Es soll um Repressalien gegen Gefangene gegangen sein, um Sippenhaft, es soll, so bestätigt Jahre später ein Staatssekretär, tatsächlich ein Hellseher befragt worden sein und eine Frau, die mit Pendeln Schleyers Aufenthaltsort herausfinden zu können behauptete.

Der Historiker Golo Mann schreibt: „Wir befinden uns im Krieg“.

Drei Tage später wird die „Landshut“ auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt entführt. Die RAF hat das Angebot angenommen, zögerlich, weil so etwas nicht zu ihrer Strategie gehört. Andererseits: Die Maschine mit den „Neckermännern“ ist auch ein Sinnbild der verkommenen Republik, in der dem Volk Wohlstand und Freiheit vorgegaukelt werden. Und: Mehr als einen Monat nach der Entführung scheint es kaum eine andere Chance zu geben, die Freilassung der Gefangenen durchzusetzen. Die RAF glaubt, dass der Staat an der „militärischen Lösung“ arbeitet.

86 Passagiere sind an Bord der „Landshut“. Schnell wird klar, dass der Anführer der vier Geiselnehmer ein unberechenbarer, hochnervöser Irrer ist.

In Bonn steht der kleine Sohn einer Stewardess mit seinem Vater vor dem Kanzleramt. Er hält ein Plakat in den Händen, auf dem steht: „Ich will meine Mutti wiederhaben.“

Die Entscheidungen wiegen dreifach schwer. Es geht um das Leben der Geiseln in der „Landshut“, um das Leben des Arbeitgeberpräsidenten, aber es geht auch um den Beweis, dass der Staat den Terror besiegen kann, dass er aus dem Desaster bei den Olympischen Spielen 1972 gelernt hatte. Aus allen Berichten und Zitaten spricht die Ungläubigkeit, mit der der Kanzler das glückliche Ende in Mogadischu zunächst aufnahm. Alle Geiseln wohlauf. Nur ein verletzter Mann bei der GSG 9. Schmidt, der Inbegriff hanseatischer Distanz, soll seine Sekretärin umarmt haben.

Der Staat, so scheint es, hat gesiegt. Und die RAF fügt sich in ihre Niederlage - so denkt vielleicht mancher, als er die Nachricht aus Stammheim hört, wo sich Baader, Ensslin und Raspe nur Stunden nach der Befreiung der „Landshut“ umgebracht haben. Die Nachfolger sind mit der Befreiungsaktion gescheitert, nun haben sie, wie angekündigt, die Sache selbst in die Hand genommen. Ein Sieg des Staates auf ganzer Linie? Der Kanzler und sein Vertrauter wissen es besser. Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski wird später sagen: „Die Entscheidungen von Mogadischu führten fast zwangsläufig zur Ermordung von Dr. Schleyer.“ Auf einen anonymen Hinweis hin findet man Schleyers Leiche im Kofferraum eines Audi in Mülhausen. Getötet mit drei Kopfschüssen.

Bei der Trauerfeier für Schleyer sagt Bundespräsident Walter Scheel: „Die vergangenen Wochen sind gewiss die schlimmsten in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen.“ Der Kommentator in der Rundschau schreibt: „Es wird nie wieder so sein, wie es vor den Attentaten war.“ Die RAF hinterlässt eine Erklärung: „Der Kampf ist noch nicht zu Ende.“

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