Gespräch mit Reinhard Birkenstock„Familie ist nicht selbstverständlich“

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Symbolhafte Stene: Ralf Dahrendorf (2. v. r.), diskutiert im Januar 1968 mit dem Studentenführer Rudi Dutschke (links daneben). (Bild: dpa)

Symbolhafte Stene: Ralf Dahrendorf (2. v. r.), diskutiert im Januar 1968 mit dem Studentenführer Rudi Dutschke (links daneben). (Bild: dpa)

Herr Birkenstock, was ist unser Gesprächsthema?

Nun, jenseits meines Berufs interessiere ich mich für Politik und natürlich für meine zahlenmäßig nicht ganz kleine Familie.

Dann sollten wir versuchen, beide Themen in eins zu bringen: Familie und Politik. Seit wann sind Sie politisch aktiv?

Als Schulsprecher am Städtischen Gymnasium in Siegen habe ich den großartigen Fritz Erler kennen gelernt. Wegen ihm bin ich damals der SPD beigetreten. Weit vor 68, sogar noch vor der ersten Großen Koalition habe ich mir Erlers Parlamentsreden angehört und war fasziniert. Von solch einem Mann kann man heute nur noch nostalgisch träumen, das war ein Parlamentarier alten Schlages.

Wie weit führte Ihre politische Karriere?

Ich habe es bis zum Unterbezirksvorstand der Jusos gebracht und in den Stadtrat von Hürth.

Kann eine Partei auch eine Familie sein?

Für mich nicht. Ich halte es da mit Gustav Heinemann: „Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau.“ Und eine Partei ist ein Instrument zur Durchsetzung von politischen und persönlichen Zielen.

Und was ist eine Familie?

Die Familie ist das Ursprungsnest, von dem aus man lebt.

Schön gesagt! Wie sah Ihr Ursprungsnest aus? Aus dicken Stöcken grob gezimmert oder fein ziseliert?

Ich bin mit meiner Frau rund 25 Jahre zusammen. Meine frühere Frau hatte sicherlich vor gut vier Jahrzehnten einen ganz anderen Mann kennen gelernt. Ich denke, um mein erstes Nest habe ich mich zu wenig gekümmert.

Waren Sie ein typischer 68er?

Ich war angesteckt von den Antiautoritären, aber stets auf Distanz zu den ganz Radikalen. Die hatten mir immer einen zu missionarischen Blick.

Gab es seinerzeit unter den Studenten familiäre Gefühle? Fühlten Sie sich als Teil eines Ganzen?

Als Benno Ohnesorg erschossen wurde, da kam ein Wir-Gefühl auf: Die haben da auf einen von uns geschossen! Das hat uns, jung, wie wir damals waren, sehr emotional und direkt getroffen. Mein zweites Wir-Erlebnis entstand durch den ersten von Baader und den anderen angezettelten Kaufhausbrand und die damit einhergehende Gefährdung von Menschen. Da war für mich klar: Jetzt verraten einige egoneurotische Spinner die berechtigte Aufmüpfigkeit einer ganzen Generation.

Die viel zitierte „klammheimliche Freude“ über deren Taten kannten Sie nicht?

Nein! Das sind doch nur literarische Attitüden von Leuten, die sich irgendwie intellektuell gebärden wollten. Ich war nur wütend und entsetzt.

Heutzutage existiert weder eine Studenten- noch eine ausgeprägte linke Bewegung. Wie verlief bei Ihnen der Weg vom Wir zum Ich?

Eigentlich war ich auf diesem Weg schon sehr früh, ich habe mir immer meine eigenen Gedanken gemacht. Ich bin beispielsweise auch während meiner Studentenzeit nie aus der SPD ausgetreten. 1968 wurde ich für diese Mitgliedschaft an der Uni verlacht, aber das war mir egal.

Hat dieser Eigensinn familiäre Wurzeln?

Durchaus. Da mein Vater einer pietistischen Freikirche angehörte, musste ich mich schon ganz früh aus einer sich als missionarisch empfindenden Gruppe herauslösen. Spätere Versuchungen, in irgendein Missionsbündnis einzutreten, prallten also an mir ab.

Wie sehen Sie die 68er, dieses „Wir“ von heute aus? Ist Ihnen manches peinlich?

Ich fand Prechts Film „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ sehr befreiend. Da ist mir bewusst geworden, dass ich mit vielen meiner damaligen Albernheiten nicht alleine war. Der Großteil meiner Generationskollegen war genauso bekloppt wie ich.

Erinnern Sie sich an ein Beispiel?

Ein Beispiel, nein; ich habe mehr das besserwisserische Pathos in Erinnerung, mit dem wir argumentierten. Teilweise auch, wenn es uns in Wahrheit um Selbstdarstellung und persönliche Eitelkeit ging.

Haben Sie aus den damaligen Gruppen und Zusammenhängen etwas mitgenommen in Ihre Familiengründung?

Früher leider ja, ich habe damals viel zu viel Zeit und Kraft für nicht immer sinnvolle gesellschaftspolitische Diskussionen, Meetings und so weiter verschwendet.

Man könnte bei Ihrer Sozialisation vermuten, dass Sie zum Beispiel der Gleichberechtigung der Frau gegenüber aufgeschlossener als manch andere Zeitgenossen waren.

Natürlich haben wir damals auch die Geschlechterfrage diskutiert. Die Frau war auch noch im Nachkriegsdeutschland lange Zeit rechtlich nicht viel mehr als ein aufrecht gehendes Haustier. Ehefrauen durften beispielsweise ohne Zustimmung des Gemahlsgatten kein eigenes Konto anlegen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Aber Vietnam war wichtiger?

Ich habe als Student zu Anfang wirklich gedacht, es gäbe da ein paar drängendere Probleme als die Emanzipation. Das war natürlich Quatsch.

Sondern?

Was im Bereich der Gleichstellung passiert ist, gehört meines Erachtens zum beachtlichsten Teil in unserer politischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Ich glaube allerdings nicht, dass das allein an unserem Gerede lag, nein, das Wichtigste für die Emanzipation der Frau war die Pille.

Auch Männer können verhüten.

Aber jetzt haben hier die Frauen das Heft in der Hand und bestimmen über die Frage der Schwangerschaft. Der Pillenknick beweist das.

Von der Verhütung zurück zur Familie: Die ist bei Ihnen recht breit aufgestellt, sagten Sie eingangs.

Ja, ich habe drei Kinder aus meiner früheren Ehe, meine Frau hat zwei Kinder aus ihrer früheren Ehe mitgebracht, die ich inzwischen adoptiert habe, und ein drittes haben wir gemeinsam. Und fünf Enkel habe ich auch noch.

Gibt es gemeinsame Urlaube?

Gemeinsame Familienfeiern schon, aber alle gemeinsam in den Urlaub gefahren sind wir nicht.

Müssen Sie sich zerreißen, um für alle präsent zu sein?

Ich bin sehr in meinen Beruf eingespannt, über den wir ja hier nicht reden. Aber deshalb bin ich auch zu wenig präsent.

Bedauern Sie das?

Ja, weil ich weiß, dass Familie nicht selbstverständlich ist.

Unsere Themen waren Familie und Politik. Deshalb die Schlussfrage: Wie gefällt Ihnen die derzeitige Familienpolitik?

Ich finde eigentlich toll, dass Frau von der Leyen ihren Job so betreibt, dass man Familienpolitik endlich wieder als solche wahrnimmt. Aber mal ganz allgemein gesprochen: Wenn ich sehe, wo überall Geld reingesteckt wird, in marode Banken etwa, dann wundere ich mich darüber, dass in die Familien- und Bildungspolitik so erschreckend wenig investiert wird.

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