Interview mit René RedzepiFrittierte Flechten sind besser als Chips

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René Redzepi (Bild: Worring)

René Redzepi (Bild: Worring)

Herr Redzepi, obwohl die skandinavischen Länder so nahe sind, verbindet man hierzulande wenig kulinarische Ideen mit dieser Region. Haben Sie ein dänisches Geschmacksgedächtnis?

Oh ja, in meinem Kopf sind verschiedene Geschmacksrichtungen eingebrannt. Sie sind rustikal, manche extrem fettig, andere säuerlich, ein bisschen salzig und ein bisschen geräuchert. Das hängt mit den traditionellen Konservierungsmethoden zusammen: Um Lebensmittel haltbar zu machen, wurden sie geräuchert, getrocknet, in Fett, Salz oder Essig eingelegt.

Sie haben der nordischen Küche eine Renaissance beschert, gerade indem Sie sich ausschließlich auf skandinavische Produkte beschränken. Ist es leichter, ein so radikales Konzept zu behaupten, wenn das traditionelle Erbe nicht derart gewichtig ist wie etwa in der französischen Küche?

Schwer zu sagen, aber vielleicht versteht man Dinge so einfacher: Wo ist in Deutschland die am stärksten katholisch geprägte Gegend?

Vor allem im Süden und Westen.

Und die besten und vielfältigsten Regionalküchen wahrscheinlich auch.

Ja.

Also, wir Dänen sind oder waren protestantisch. Wir erlaubten uns nicht, zu genießen - das ist Sünde. Ich erinnere mich, wie ich bei meinen Großeltern am Tisch sitze und wir mussten alle in absoluter Stille essen. Kein Gespräch, nur essen und schweigen. Wir essen den Teller leer, egal was es ist, dann räumen wir ab und gehen - das war s. Das war eine Mahlzeit. Das zeigt ziemlich deutlich, warum wir keine hoch entwickelte Landesküche haben.

Wie kamen Sie zur Genussfähigkeit, was hat Sie beeinflusst?

Als ich das erste Mal Tanja Blixens „Babettes Fest“ las, die Erzählung, in der eine Köchin eine ganze pietistisch-verstockte Gesellschaft durch ein Festmahl sinnlich bezaubert, war mir zwar klar, dass das die extreme Version dieser Art von Sittlichkeit war. Aber ich dachte, ich könnte eine moderne Version dieser Verführung versuchen.

Sie haben die klassische französische Küche gelernt, im Ausland gearbeitet, auch bei Ferran Adrià im „El Bulli“. Wo liegt der Wendepunkt zu Ihrem eigenen Konzept?

Es gab nicht einen speziellen Moment. Aber als ich „El Bulli“ verließ, fühlte ich eine ganz, ganz große Freiheit. Die französische Küche hatte für mich den dominierenden Faktor verloren.

Ist sie komplett aus Ihrem Kochen verschwunden?

Nun, wir verwenden immer noch Fonds! Knochen und Karkassen auszukochen ist ur-französisch, würde ich sagen.

Ferran Adrià hat jahrelang mit der spanischen Avantgarde den internationalen kulinarischen Diskurs bestimmt. Was haben Sie von ihm mitgenommen?

Technik ist großartig. Sie bedeutet vornehmlich Maschinen. Benutze ich einen Mixer, kommen Technik und Essen zusammen. Noch nie konnte Temperatur in technischen Geräten so präzise gesteuert werden. Was chemische Hilfsmittel betrifft, betone ich, dass ich absolut nicht dagegen bin. Aber manchmal kommt es mir so vor, dass sie dem Grundprodukt vielleicht zu viel originären Geschmack rauben, deshalb spielen sie bei uns keine große Rolle. Sie können helfen, neue Texturen zu schaffen. Aber manchmal denke ich: Würde ich das meiner Tochter zu essen geben? Und was ich meiner Familie nicht serviere, serviere ich auch nicht meinen Gästen.

Im vergangenen Jahr haben Sie mit dem „Noma“ das „El Bulli“ von der Spitze des Rankings „The World s 50 Best Restaurants“ verdrängt. Jetzt sind Sie der einflussreichste Koch.

Wirklich, das begleitet mich nicht bewusst. Mein Alltag besteht immer noch aus sehr vielen Stunden Arbeit und sehr wenigen Stunden Schlaf. Auch das „Noma“-Konzept war anfangs, also vor sieben Jahren, nicht so profiliert wie heute. Zunächst war es gar nicht strikt. Die Idee war schlicht: Lasst uns ein Restaurant eröffnen und schauen, ob wir mehr heimische lokale Produkte verwenden können. Dann versuchten wir, die Küche sozusagen zu rasieren, ohne die typischen spitzengastronomischen Produkte wie Foie gras und so weiter auszukommen, ohne die 70, 80 Dinge, die überall in der westlichen Welt serviert werden.

Sie stehen mittlerweile auch für Spitzenküche, die sich mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit und ökologischer Erzeugung befasst.

Das gab es vor sieben Jahren noch nicht, auch nicht bei mir. Wer hat sich darum geschert? Die Leute interessierten sich nur für Wachstum. Jetzt ist es für mich essenziell geworden. Das hat damit zu tun, wie wir arbeiten. Im „Noma“-Menü kommt nur vor, was es gerade gibt, was die Jahreszeit beschert, was das Wetter uns bringt, was der Boden gerade hergibt, was die ökologisch erzeugenden Bauern, mit denen wir zusammenarbeiten, liefern. Wenn man nach der besten Qualität sucht, ist für mich klar, dass die aus biodynamischer Erzeugung kommt. Und wenn man diese Philosophie, diese Leidenschaft verinnerlicht, wird man Teil der Natur. Du schließt einen Pakt mit der Natur.

In Deutschlands Spitzenküchen erfährt Gemüse eine neue und intensive Aufmerksamkeit. Spielt vegetarisch eine Rolle bei Ihnen?

So bin ich aufgewachsen. Nicht rein vegetarisch, aber mit sehr viel Gemüse. Mein Vater ist Mazedonier, und in seiner Heimat wurde wenig Fleisch gegessen. Protein gab es hauptsächlich durch Hülsenfrüchte. Die Vielfalt auf diesem Feld scheint mir unendlich. Als wir vergangenen Winter, der wirklich sehr hart war, fast nicht mehr wussten, was wir noch auf die Karte setzen sollten, kam ein Lieferant mit uralten Karotten an. Sie waren fast den ganzen Winter über im Boden geblieben, also nicht rechtzeitig geerntet worden. „Shiddy carrots“, würde ich sagen. Aber dann haben wir angefangen, mit diesem auf den ersten Blick echt miesen Gemüse genauso viel Aufwand zu treiben, wie man es mit exzellentem Fleisch beispielsweise macht. Und ganz, ganz am Schluss hielten wir eine Sensation in den Händen. Die Karotten hatten ihre Konsistenz völlig verändert, sie waren fast fleischartig und schmeckten verblüffend.

In Ihrer Küche finden sich Produkte, die sehr ungewöhnlich sind.

Ich finde, Spitzenköche haben auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Vielfalt der Produkte nicht ausstirbt. Die Verbindung von Altem und Neuem, Bekanntem und Unbekanntem ist der Kern unserer Arbeit. Wir sammeln wilde Pflanzen, Früchte, Kräuter und Beeren. Es gibt durchaus eine dänische Tradition. Fjord-Shrimps etwa wurden früher mit Bier und Dill gekocht. Sie schmecken ganz mild. Wir finden aber, dass sie absolut frisch und pur am besten sind - sozusagen direkt aus dem Meer gegessen. In Dänemark gibt es aber keine Tradition, rohe Produkte zu essen. Pilze sind hochinteressant. Wir hatten eine riesige Krause Glucke und ließen sie zwei Wochen reifen wie Fleisch. Jeden Tag wendeten wir den Pilz, um ihn von all den kleinen Lebewesen zu befreien, die auf ihm lebten - er kam uns vor wie ein Planet. Dann rösteten wir Scheiben davon wie ein Hühnchen - der Geschmack war unglaublich intensiv.

Ist Ihre pure Ausrichtung auf skandinavische Regionalität nicht auch ein sehr limitierender Faktor?

Überhaupt nicht. Im Gegenteil scheint sie mir eine ewige Quelle. Ständig entdecken wir Neues, neue Produkte, lernen über Zubereitungsarten wie etwa Fermentieren, die man auch auf vermeintlich ungewöhnliche Produkte anwenden kann. Gerade arbeiten wir viel mit Moosen und Flechten.

Wie sind Sie ausgerechnet auf Flechten gekommen?

Ich habe vor Jahren in Nordschweden gesehen, wie ein Rentier sie fraß. Es ist eine erstaunliche Sache. Flechten trocknen und bleiben so über Jahre unverändert. Dann gibt man nur ein bisschen Wasser dazu und das Leben kehrt in sie zurück.

Was machen Sie damit?

Die Pflanze besteht fast vollständig aus Protein. Statt Fleisch kannst du Flechten essen. Es gibt mehr als 300 Arten, manche sind so groß wie meine Hand, haben eine ähnliche Konsistenz wie Pilze. Manche sind extrem geschmacksintensiv, manche bitter, die muss man wässern -; eine unglaubliche neue Zutat in unserer Küche. Wir frittieren Flechten und das Ergebnis ist besser als Kartoffel-Chips. Es schmeckt ganz außergewöhnlich. Leicht nach Pilzen mit einem erdigen Ton - köstlich, einfach köstlich. Ich würde es jederzeit Popcorn vorziehen, wenn ich ins Kino gehe.

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