Britischer BildhauerMuseum in Münster feiert Henry Moore im Kontext seiner Zeit

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Henry Moore

Skulptur "Zweiteilige liegende Fifur Nr.9" (1968) von Henry Moore

Münster – Die Liegende: Was für ein umwerfendes Thema! Bei dem britischen Bildhauer Henry Moore reicht das von der erotischen Verheißung einer hingegossenen Schönheit bis zu den traumatischen Bildern anonymer, schutz- und ruhesuchender Körper seiner Zeitgenossen, die vor Hitlers Bomben in die Stationen und Röhren der Londoner U-Bahn geflohen sind. Die Liegende ist bei Moore gleichsam die Topografie einer sanft hügeligen Landschaft, kann aber auch Ort brutalster Zerstörung sein. Da wird der organische Körper perforiert, zerkratzt, zerstückelt. Im zweiten Raum der grandiosen Münsteraner Moore-Schau liegen seine monumentalen, fragmentierten Körper, bronzene Erinnerungen an die Gefallenen zweier Weltkriege, die auch Moores Biografie geprägt haben. Eine stille, starke Gruppe, die von Markus Lüpertz' "Krieger" kommentiert wird - ein geschlagener Held mit amputierten Unterschenkeln, der sich sterbend an seinem Schild festklammert.

Die Moore-Ausstellung startet mit einer Grammatik der Liegenden, beginnend bei den Shelter-Zeichnungen aus den Londoner Bombennächten und der figurativen Liegenden der frühen Fünfziger aus dem Kölner Museum Ludwig, endend mit abstrakten, organischen Körpern. Doch nicht nur Moore spielt hier eine Rolle, sein Werk wird sehr überzeugend in einen europäischen Kontext gestellt: mit dem Geistesverwandten Hans Arp und den biomorphen Plastiken Hans Hartungs, den organischen Liegenden Bernhard Heiligers, den zerklüfteten Figuren Toni Stadlers und dem großen Bewunderer Joseph Beuys, der Moore 1960 ein verknotetes Einweckgummi in einer kleinen Vitrine widmete.

Ausgerechnet im Jahr größter Europaskepsis in der Heimat des vor 30 Jahren gestorbenen Moore, ausgerechnet im Jahr der Brexit-Entscheidung wird der Bildhauer - mit tätiger Unterstützung der Londoner Tate, die 64 hochkarätige Leihgaben nach Münster schickte - als perfekt vernetzter Europäer präsentiert, als Impulsgeber für den Kontinent einerseits, als Profiteur von dessen Moderne andererseits. Moore hat sich mit dem Elsässer Arp und dem Spanier Picasso beschäftigt, kannte und schätzte den Schweizer Alberto Giacometti. Und das Werk des Briten wurde insbesondere in Deutschland breit rezipiert. Brigitte Matschinsky-Dennighoff und Hans Uhlmann, Norbert Kricke, die erwähnten Heiliger, Hartung, Beuys und Lüpertz haben Moores Impulse aufgenommen.

1950 hatte er als kultureller Exportschlager des British Council mit einer Ausstellung im Hamburger Kunstverein, die dann ins Kunstmuseum Düsseldorf wanderte, deutschen Boden betreten. Der Beginn einer großen Verehrung für Moore, die sich in zahllosen Ausstellungen, der Teilnahme an vier Documentas und einem aberwitzigen Wettstreit deutscher Städte niederschlug: Jede Kommune, die etwas auf sich hielt, wollte ihren repräsentativen Moore. Bonn bekam 1979 die "Large Two Forms" vor dem Kanzleramt.

Zurzeit ist Moore offenbar wieder in der Diskussion. Im Sommer eröffnete der in Deutschland lebende und lehrende britische Bildhauer Tony Cragg eine eindrucksvolle Schau mit Moores Gipsen in seinem Skulpturenpark in Wuppertal. Seit dem Wochenende läuft "Henry Moore - Impuls für Europa" im LWL-Museum Münster, und im kommenden Jahr soll es eine große Retrospektive im Arp Museum Rolandseck geben.

Mit 120 Exponaten beleuchtet Münster Moore, seine Prägung und seine Wirkung. Sechs Kapitel erschließen das Werk und dienen als faszinierende Dialogplattform für den britischen Bildhauer und seine Wegbegleiter. Die Liegenden sind ebenso ein Thema wie Maske, Helm und Kopf für die Diskussion über Hülle und Binnenform. Divergierende Kräfte manifestieren sich in den Paardarstellungen und den Mutter-Kind-Gruppen. Zwei Kapitel widmen sich allein den vielen Schritten zur Abstraktion und Moores allgemeinen Reflexionen zum Wesen der Skulptur.

Die Tate hat Spitzenwerke nach Münster geschickt, aber auch die Großplastiken vor dem Museum und im Stadtraum machen die Schau zum Ereignis. Seit 1977 - anlässlich der "Skulpturen-Projekte" besitzt Münster Moores "Three Piece Sculpture: Vertebrae". Aus Wuppertal kam die eindrucksvolle gewandete "Sitzende" von 1957/58, die 1959 auch auf der Documenta zu sehen war. Recklinghausen schickte eine monumentale Liegende von 1963/64 nach Münster, Berlin ließ den wunderbaren "Bogenschützen" (1964/65), der gewöhnlich vor der Nationalgalerie steht, reisen. Ein fantastisches Ensemble.

LWL-Museum, Münster; bis 19. März 2017. Di-So 10-18 Uhr, Katalog (Hirmer) 39,90 Euro

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