zum 85. GeburtstagHans Magnus Enzensbergers lockere Lebensbeichte

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Der Öffentlichkeitsarbeiter: Hans Magnus Enzensberger sprach am 30. Oktober 1966 in Frankfurt beim Kongress "Notstand der Demokratie" auf dem Frankfurter Römerberg. (Foto: dpa)

Der Öffentlichkeitsarbeiter: Hans Magnus Enzensberger sprach am 30. Oktober 1966 in Frankfurt beim Kongress "Notstand der Demokratie" auf dem Frankfurter Römerberg. (Foto: dpa)

"Als Buchhalter unserer Vergangenheit bin ich eine Fehlbesetzung", wirft der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger all denen entgegen, die sich von seinem neuen Buch "Tumult" wirklich Erhellendes über die Revolte der 68er erwarten, sich gar eine Chronique scandaleuse über Dutschke, Teufel und die Tagträumer von der Kommune 1 erhoffen. Enzensberger war 38, "als das alles anfing", zu alt, um bei der APO mitzumachen, und zu jung, um deren Zielscheibe zu werden. Aber: Er, der Freund der Reisen und kleinen Fluchten, war immer dabei, und doch nie da.

Dass sich die heimatlose Kommune 1 - in der auch Enzensbergers Ex-Frau Dagrun mit seinem Bruder Ulrich eine Zeit lang lebten - immer wieder bei Hans Magnus einquartierte, insbesondere wenn Uwe Johnsons Wohnung gerade nicht frei war; dass HME, wie er genannt wird, Ulrike Meinhof und den Kreis der RAF-Terroristen gut kannte; dass er seit 1965 das Kursbuch, das Zentralorgan der Studentenbewegung, herausgab; das alles änderte nichts an der Tatsache, dass Enzensberger als eigenständige, unkorrumpierbare Persönlichkeit, als Freigeist über den Dingen der Zeit zu schweben schien.

Im gefiel "die Erschütterung der deutschen Ordnung. Das war überfällig und schwer aufzuhalten", wie er in "Tumult" schreibt. Aber ihm schienen Salonkommunisten à la Hans Werner Henze in Rom, wo er gerne mit Ingeborg Bachmann tanzen ging, Intellektuellenkreise in Castros Kuba und Literatenzirkel in Russland näher zu sein als die Barrikaden von Berlin. Als "ein von der Menschenjagd aufgehetzter armer Teufel" den Studentenführer Dutschke in den Kopf schoss und Demonstranten daraufhin versuchten, das Springer-Hochhaus zu stürmen, aß Enzensberger gerade bei Freunden in einem Prager Vorort Liwanzen, debattierte über den Prager Frühling und die Zukunft der experimentellen Poesie.

Geschenk an die Fangemeinde

Herrliche Details wie diese liest man in "Tumult", einem Buch, das, glaubt man Enzensbergers Aussagen, dem Zufall zu verdanken ist. Und wohl vielleicht auch dem Umstand, dass HME, der heute vor 85 Jahren im bayerischen Kaufbeuren geboren wurde, offenbar der großen Fangemeinde ein autobiografisches Geschenk machen wollte. Doch zum Zufall: Zwischen Weinregal und Werkzeugkasten habe er im Keller Pappschachteln mit vergessenen Briefen, "Sudelheften und Mappen", Fotos und liegengebliebenen Manuskripten gefunden: Material über die frühen 60er Jahre bis 1970.

Mit einer erfrischenden Nonchalance - "Mein Gedächtnis gleicht einem Sieb, in dem wenig hängenbleibt" - hat Enzensberger dieses Material bearbeitet. Er, der in den Memoiren seiner Zeitgenossen "mit Widerwillen" blättert und derlei Selbstinszenierungen hasst.

"Tumult" passt nicht in jenes Genre. Das Buch beginnt als tagebuchartiger Reisebericht einer ersten Begegnung mit Russland 1963 und einer literarischen Tour durch die Sowjetunion (1967) und endet mit einem "Interview", in dem der Enddreißiger Enzensberger von dem bald 85-jährigen Enzensberger durchaus kritisch "befragt" wird. Ein schöner literarischer Kniff. Der Alte mahnt zum Tempo, wenn die Kuba-Geschichten zu langatmig werden, fordert Details, wenn der junge Enzensberger gerade dann damit spart, wenn es um seinen "Russischen Roman" geht. "Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?" So lautet die Eingangsfrage des Seniors an den Junior.

Eine wilde Liebe in Russland

Der "Russische Roman": Auf seiner Reise quer durch die Sowjetunion von Moskau bis Sibirien, über die er detailliert und mit feiner Ironie berichtet, lernt der junge Büchnerpreisträger bei einem Schriftstellerkongress in Baku die 23-jährige Maria Aleksandrowna Makarowa kennen, Mascha. Ein Amour fou nimmt seinen Lauf. Der Schriftsteller kann von der kapriziösen, chronisch eifersüchtigen und psychisch angeschlagenen Mascha nicht lassen. HME verlässt Frau Dagrun und Tochter in Norwegen, es folgt die Scheidung (der spätere RAF-Terrorist Horst Mahler vertritt das Paar). 1967 heiraten HME und Mascha, leben ganz kurz zusammen in Berlin, dann in Moskau, in den USA, Kuba und England. Anfang der 70er Jahre diagnostiziert Enzensberger "eine Art Materialermüdung" dieser zerstörerischen Ehe, die 1980 geschieden wird. Der "Russische Roman" war zu Ende. Mascha nimmt sich im Herbst 1991 das Leben. "Tumult" ist die kunstvolle Verknüpfung von Enzensbergers privaten Turbulenzen mit der von Studentenrevolte, Vietnamkrieg und der Konfrontation USA-Kuba geprägten politischen Großwetterlage.

Enzensberger ging seinen Weg. Und der führte für ihn und Mascha etwa auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs nicht zu den Barrikaden und auf Demos, sondern ins beschauliche Neuengland, wo er einem Ruf an die Universität von Middletown folgte. Um nach vier Monaten die Zelte abzubrechen und die umständliche Reise in das durch ein US-Embargo blockierte Kuba anzutreten. Fantastisch, was Enzensberger aus dieser 1959 durch Fidel Castro und Che Guevara von dem Diktator Batista befreiten Karibikinsel berichtet. Enzensbergers Beobachtungen und anekdotensatte Kuba-Schnurren zeichnen ein differenziertes Bild dieses vermeintlichen sozialistischen Paradieses.

Dort blickt er ebenso hinter die Kulissen wie 1963, als er mit Kollegen in Chruschtschows Villa in Gagra an der Schwarzmeerküste eingeladen war, wo der Hausherr die Delegation "mit bäurischer Eleganz" empfing, um diese dann mit einem 50-Minuten-Monolog zu traktieren. Amüsiert beschreibt Enzensberger die devoten Literaten aus dem Westen, allen voran Sartre, den Enzensberger offenkundig nicht mochte. Der habe "lammfromm" vor dem kommunistischen Diktator sein Begrüßungssprüchlein aufgesagt, "ganz im Gegensatz zu seiner Haltung in Frankreich, wo er der Macht gegenüber gerne gefahrlose Mutproben ablegt".

Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp, 287 S., 21,95 Euro. Hörbuch: Enzensberger liest mit Stefan Hunstein eine gekürzte Fassung von "Tumult". Hörbuchverlag, 4 CDs, 21,99 Euro.

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