40 Jahre Landshut-EntführungDramatische Befreiungsaktion am Flughafen von Mogadischu

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Im Dornier-Museum in Friedrichshafen wird derzeit das Wrack der ehemaligen Lufthansa-Maschine "Landshut" restauriert. Die Boeing 737 soll Besucher künftig an die Odyssee des Flugs LH 181 von Mallorca nach Mogadischu erinnern, an jene dramatischen Ereignisse vor 40 Jahren, als der Terror versuchte, die Bundesrepublik mit brutaler Gewalt in die Knie zu zwingen - und die Welt den Atem anhielt. Eine Chronik der Ereignisse von Wolfgang Kaes

In Sandra Maischbergers bemerkenswerter TV-Dokumentation „Helmut Schmidt außer Dienst“ gesteht der Altkanzler (drei Jahre vor dem Tod seiner Frau Loki) mit gewohnt sparsamen Worten: „Emotionen sind noch nie meine starke Seite gewesen.“ Soweit er sich erinnere, habe er nur zwei Mal in seinem Leben geweint. Das erste Mal nach dem frühen Tod seines kleinen Sohnes kurz vor Kriegsende. Das zweite Mal im Bonner Kanzleramt. Nach dem Anruf seines Krisenministers Hans-Jürgen Wischnewski in der Nacht zum 18. Oktober 1977 aus der somalischen Hauptstadt Mogadischu.

7. April 1977

In Karlsruhe ermordet die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dessen Fahrer Wolfgang Göbel sowie den Leiter der Fahrbereitschaft, Georg Wurster.

30. Juli

Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, wird in seinem Haus im Taunus von einem RAF-Kommando überfallen. Als er sich gegen die geplante Entführung zur Wehr setzt, erschießt man ihn.

5. September

Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer wird in Köln auf dem Weg vom Büro zur Dienstwohnung überfallen und verschleppt. Die RAF erschießt seinen Fahrer Heinz Marcisz (41) sowie die Polizeibeamten Reinhold Brändle (41), Helmut Ulmer (24) und Roland Pieler (20). Die Entführer fordern die Freilassung von elf inhaftierten RAF-Terroristen. Doch die Bundesregierung will sich – anders als bei der Entführung des Politikers Peter Lorenz zwei Jahre zuvor – nicht erpressen lassen. Weil sie fürchtet, was die inhaftierten RAF-Mitglieder unternehmen, sobald sie auf freiem Fuß sind. So wie Brigitte Mohnhaupt, die gleich nach der Haftentlassung am 8. Februar untergetaucht war, um die zweite RAF-Generation zu organisieren.

13. Oktober

Um sieben Uhr morgens klingelt in Jürgen Vietors Wohnung in Bensheim bei Darmstadt das Telefon. Ein Mitarbeiter der Einsatzzentrale der Lufthansa: „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben soeben einen Freiflug nach Mallorca gewonnen.“ Jürgen Vietor hat heute Bereitschaftsdienst. Als Passagier wird er also in drei Stunden von Frankfurt/Main nach Palma fliegen, als Copilot mittags im Cockpit der Boeing 737-200 zurück nach Frankfurt. Was er nicht weiß, als er aus dem Bett steigt: Dies war der letzte Schlaf für die nächsten fünf Tage und fünf Nächte. Seine Frau ist Lehrerin und schon aus dem Haus. Er schreibt ihr einen Zettel: „Liebe Renate, ich muss heute fliegen, bin aber am Nachmittag zum Kaffee zurück.“

13.11 Uhr MEZ

Take off für Flug LH 181 in Palma. Zwei mal 25 000 PS katapultieren die Boeing 737 über die Startbahn. An Bord: Kapitän Jürgen Schumann (37), Co-Pilot Jürgen Vietor (35), die Stewardessen Hannelore Piegler, Anna-Maria Staringer und Gabriele Dillmann sowie 90 Passagiere, zum Großteil deutsche Urlauber auf dem Weg nach Hause. 9650 Liter Treibstoff in den Tanks. Und zwei Särge im Frachtraum. Überführung der Leichname nach Deutschland, nichts Ungewöhnliches. Vietor erinnert sich an seine Zeit auf der „Gorch Fock“ und erzählt Schumann, was abergläubische Seeleute von einem Toten an Bord halten. „Ein böses Omen, und wir haben gleich zwei dabei“, scherzt der „Co“, Schumann lacht. Eine halbe Stunde später erreicht die „Landshut“ ihre Flughöhe und stellt die Nase waagerecht. Das Zeichen für die Stewardessen, mit der Bewirtung der Gäste zu beginnen.

Der Terror bricht aus, kaum dass Essen und Getränke auf den heruntergeklappten Tischchen stehen. Vier der 90 Fluggäste gehören zur PFLP-SC, einer fanatischen Splittergruppe der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, die enge Kontakte zur deutschen RAF unterhält, ihr Unterschlupf, Ausbildung und Waffen liefert. Aus ihrem Handgepäck ziehen sie zwei Pistolen, vier Handgranaten und ein halbes Kilo Plastiksprengstoff samt Zünder. Sie zwingen Schumann, Kurs aufs östliche Mittelmeer zu nehmen.

Tankstopps in Rom und Larnaka auf Zypern. In Rom teilen die Geiselnehmer ihre Forderung mit: Freilassung der elf in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen und zweier Palästinenser aus türkischer Haft sowie 15 Millionen US-Dollar. Bonn fordert Rom auf, die „Landshut“ am Weiterflug zu hindern, die Reifen zu zerschießen. Die italienische Regierung weigert sich. Man ist heilfroh, das Problem nach dem Tankstopp wieder los zu sein. Beim nächsten Tankstopp auf Zypern müht sich ein Vertreter der palästinensischen PLO vergeblich, mit den Entführern zu verhandeln.

An diesem Donnerstag durchkämmt Dieter Fox (30) mit seinem GSG9-Team das 45-stöckige Kölner Uni-Center, eines der größten Wohnhäuser Europas. Dort hat die RAF eine konspirative Wohnung angemietet und die Schleyer-Entführung vorbereitet. Vom frühen Hinweis auf Wohnung Nr. 104 eines Appartement-Hochhauses im nahen Erftstadt-Liblar, wo Schleyer die ersten elf Tage nach seiner Entführung gefangen gehalten worden war, erfuhr die GSG 9 nichts, weil der Hinweis im Kölner Krisenstab verschlampt wurde. Im Uni-Center erreicht Fox die Nachricht, dass die Luftraumüberwachung im südfranzösischen Aix-en-Provence erstmals um 14.38 Uhr eine Kursabweichung des Flugs LH 181 meldete und die „Landshut“ über Funk nicht erreichbar ist.

Die GSG 9 fliegt noch nach Ankara, kehrt dann aber nach Hangelar zurück. Nur drei Jahrzehnte nach Hitler-Deutschland kann man keine schwer bewaffnete paramilitärische deutsche Truppe durch die Welt schicken, ohne vorab mit der Regierung des Zielorts auf diplomatischer Ebene eine Erlaubnis auszuhandeln. Das Problem: Niemand kennt das Ziel der „Landshut“.

Seit seinem 19. Lebensjahr ist Dieter Fox beim Bundesgrenzschutz. Als er davon hörte, dass nur drei Wochen nach dem Olympia-Desaster von München mit 17 Toten im September 1972 der BGS-Offizier Ulrich Wegener per einstimmigem Beschluss des Bundestages beauftragt wurde, in Hangelar eine Spezialeinheit aufzubauen, bewirbt er sich, besteht die Prüfungen, wird genommen. „Wir waren zunächst nicht überall beliebt. Auch nicht innerhalb des BGS.“ Erster Einsatz im Mai 1973, beim Breschnew-Besuch in Bonn. Zweiter Einsatz im Sommer 1974, bei der Fußball-WM in Deutschland. Da weiß in der Bevölkerung kaum jemand von der Existenz der GSG 9. In den ersten Jahren verlassen einige die Spezialeinheit. Aus Frust. Das harte Training, die ständige Bereitschaft, aber kaum Einsätze. „Trainingsweltmeister“: Den Begriff hört Dieter Fox bis heute nicht gern. „Wären wir nicht Trainingsweltmeister, würden wir im Ernstfall nicht überleben.“ Gründungskommandeur Ulrich Wegener geht felsenfest von der baldigen Entführung eines deutschen Flugzeugs aus. Der Perfektionist hält engen Kontakt zu israelischen Spezialeinheiten und ist auch vor Ort, als die Israelis am 4. Juli 1976 das Geiseldrama in Entebbe/Uganda beenden. „Es gab keine Passagiermaschine im europäischen Luftraum, die wir nicht in- und auswendig kannten“, sagt Fox.

Kapitän Jürgen Schumann und sein Co Jürgen Vietor waren vor ihrem Wechsel in die zivile Luftfahrt Kampfpiloten bei der Bundeswehr. Hauptmann Jürgen Schumann als Starfighter-Pilot auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel. Kapitänleutnant Jürgen Vietor wurde nach seiner Offiziersausbildung auf der „Gorch Fock“ Marineflieger. Die beiden Piloten der „Landshut“ sind also, was man heute „stress-resistent“ nennen würde. Das ist bitter nötig. Denn die Flughäfen, die seit dem Tankstopp auf Zypern auf Befehl des Anführers der Terroristen angesteuert werden, verweigern die Landeerlaubnis. Beirut: „No Landing Clearance“. Damaskus: „No Landing Clearance“. Bagdad: „No Landing Clearance“. Kuwait: „No Landing Clearance“. Die Entführer werden nervös. Kurzer Zwischenstopp in Bahrain, Erlaubnis zum Auftanken. Weiter.

14. Oktober

Die „Landshut“ landet in Dubai. Und bleibt 54 Stunden dort. Die Geiseln geben den Entführern Namen: „Mahmud“ (Anführer Zohair Youssif Akache, der sich aber Captain Martyr Mahmud nennen lässt). „Der Schöne“ (Nabil Harbi). „Die Kleine“ (Hind Alameh). „Die Dicke“ (Souhaila Andrawes). Die Klimaanlage fällt aus, weil der Treibstoff verbraucht ist. Bis zu 60 Grad in der Maschine. Die vier Terroristen haben die First-Class-Toilette für sich requiriert, die 91 Geiseln teilen sich die überforderte Toilette in der Touristenklasse. Fäkalien, Angstschweiß, der Gestank wird unerträglich. „Eine Frau nach der anderen bekam ihre Periode, als Folge der ständigen Bedrohung und auch, weil wir Frauen unsere Pille nicht mehr nehmen konnten“, erinnert sich Gabriele Dillmann später.

Die 23-jährige Stewardess kümmert sich aufopferungsvoll um die Passagiere, spricht ihnen Mut zu, trägt entscheidend dazu bei, dass keine lebensgefährliche Panik entsteht; und sie geht bis an die Grenzen, als sie die Entführer zu überreden versucht, wenigstens die Kinder freizulassen. Das jüngste ist erst drei Jahre alt. Keine Chance. Stattdessen wird auch die Stewardess Opfer einer angedrohten Hinrichtung. Mahmud wählt sie und zwei weitere Frauen aus. „Morgen früh werdet ihr erschossen, wenn eure Regierung nicht auf unsere Forderung eingeht“, monologisiert er in englischer Sprache, während er durch den Gang paradiert. „Du: Nr. 1. Du: Nr. 2. Du: Nr. 3.“ Er nennt sie „jüdische Huren“. Gabriele Dillmann: „Seine Augen waren voller Hass.“ Der 23-jährige Anführer hält nach Juden unter den Geiseln Ausschau. Copilot Jürgen Vietor trägt eine Armbanduhr der Marke Junghans. Das Logo auf dem Ziffernblatt: ein „J“, von einem Stern umgeben, der einem Davidstern ähnelt. „Was ist deine Religion?“ Jürgen Vietor spürt die Pistole an seinem Kopf. Natürlich spricht er die internationale Verkehrssprache der Luftfahrt. Aber nach seiner Religion hat ihn noch nie jemand auf Englisch gefragt. „I’m evangelic.“ Der Terrorist brüllt: „Was? Noch nie gehört. Du bist ein Jude!“ Kapitän Schumann geht energisch dazwischen: „No! He’s a Protestant.“ Schumann hat Vietor soeben das Leben gerettet. Und er rettet wohl auch allen anderen Geiseln das Leben, indem er über Funk verschlüsselt die Zahl der Terroristen, deren Geschlecht und deren Bewaffnung nach außen gibt.

Die wertvolle Information erreicht aber nicht nur den Tower in Dubai und die GSG 9, sondern auch die arabischen Medien. Weil sich Verteidigungsminister Muhammad bin Raschid Al Maktum (heute Herrscher des Emirats Dubai und Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate) nicht entblödet, die Information samt Quelle bei einer Pressekonferenz weiterzugeben, um sich wichtig zu machen. In der „Landshut“ erfährt der Anführer übers Radio davon, lässt Schumann im Gang niederknien, hält ihm die Pistole an den Kopf und kündigt an, ihn beim nächsten geringsten Vorfall zu erschießen.

16. Oktober

Oman: „No Landing Clearance“. Aden/Südjemen: „No Landing Clearance“. Damit erst gar kein Zweifel an der nicht erteilten Erlaubnis aufkommt, parkt das Militär der „Demokratischen Volksrepublik Jemen“ ein Dutzend Lastwagen auf der Landebahn. Die Piloten im Cockpit wissen nach dreieinhalbstündigem Flug, dass von den in Dubai gebunkerten 9800 Litern Treibstoff nur noch 200 Liter übrig sind. Das reicht nur noch für wenige Flugminuten. Während Schumann Captain Martyr Mahmud im Zaum halten muss, geht sein Copilot Jürgen Vietor trotz des Verbots und der abgestellten Lastwagen runter und landet – neben der Landebahn. Auf Sand und Geröll. Eine fliegerische Meisterleistung – nach der dritten Nacht ohne Schlaf.

Nur eine Autostunde von Aden entfernt unterhält die PFLP-SC eine Basis mitten in der Wüste. Dorthin sollen die Geiseln verschleppt werden. Aber die Regierung verweigert dies – nachdem Bonn in Ost-Berlin und Moskau interveniert hat. Die Maschine soll nach dem Auftanken weiterfliegen. Schumann überzeugt die Terroristen, dass er vor einem erneuten Start das Fahrwerk auf Schäden überprüfen müsse. Erst nach einer Stunde kehrt Schumann aus dem Dunkel der Nacht zurück. Captain Martyr Mahmud schäumt vor Wut. Er sieht seine zur Schau gestellte Autorität untergraben von diesem Mann, der so viel Ruhe und natürliche Autorität ausstrahlt. Er lässt den Kapitän im Gang zwischen den Passagieren niederknien, schreit ihn an: „Bist du schuldig?“ Ohne die Antwort abzuwarten, schießt er Schumann in den Kopf. Unterdessen verspeist „die Kleine“ seelenruhig einen Apfel.

Bis heute ist das Rätsel ungelöst, was in dieser Stunde außerhalb der Maschine vor sich ging. Gabriele Dillmann ist davon überzeugt, dass die Soldaten den Kapitän während der Inspektion der Maschine festsetzten. Und Schumann sie schließlich überzeugen konnte, ihn zurück zur „Landshut“ gehen zu lassen. In den Tod. Schumann hinterlässt eine Frau und zwei Söhne. Die Entführer lassen den Leichnam stundenlang im Gang liegen. Dann wird er in die Garderobe gebracht. „Hoffnung? Wir lebten nur noch von einer Minute zur nächsten“, erinnert sich Jürgen Vietor.

17. Oktober

Der zweistündige Flug durch die Nacht führt über tödliches Terrain, denn Somalia befindet sich im Krieg gegen Äthiopien. Um 04.34 Uhr MEZ landet Vietor die lädierte Boeing 737 auf dem Flughafen von Mogadischu. Die Leiche des Kapitäns wird über die Notrutsche abgelassen. Flughafen-Mitarbeiter liefern Kamelmilch an Bord. Die Entführer stellen ein Ultimatum: Sollten die elf RAF-Mitglieder nicht bis 15 Uhr auf freiem Fuß sein, werde die „Landshut“ gesprengt. Hans-Jürgen Wischnewski trifft in Mogadischu ein. Der Staatsminister im Kanzleramt, gut vernetzt in der arabischen Welt, folgt der „Landshut“ seit Dubai – so wie Wegeners GSG 9. Lufthansa-Pilot der Verfolgermaschine ist Rüdeger von Lutzau, der Lebensgefährte der entführten Stewardess Gabriele Dillmann. Wischnewski schafft es, die Erlaubnis für den Einsatz der Deutschen einzuholen und die Somalier davon abzuhalten, selbst zu stürmen. Dieter Fox erinnert sich noch heute mit Schaudern an die operettenhafte Vorführung einer Erstürmung mit klapprigen Holzleitern im Hangar. Wegener schlägt den Hausherren eine „Arbeitsteilung“ vor: Die Somalis sollen zur Ablenkung der Terroristen in einiger Entfernung zum Cockpit ein großes Feuer entzünden, die Deutschen stürmen. Wie viele Millionen dafür von Bonn an Diktator Siad Barre geflossen sind, weiß niemand. Vor Ablauf des Ultimatums teilt Diplomat Michael Libal den Entführern mit, die Bundesregierung willige ein, die Geiseln auszutauschen. Es dauere jedoch noch sieben Stunden, bis die Maschine mit der RAF in Mogadischu eintreffe. Zeit gewinnen, die GSG 9 benötigt den Schutz der Dunkelheit. Der Plan geht auf: Die Entführer reagieren euphorisch auf den Funkspruch und sehen sich schon als gefeierte Helden.

18. Oktober

Klarer Sternenhimmel. In Zweierreihe sind 30 GSG9-Spezialisten aus einem Kilometer Entfernung mit geschulterten Aluleitern auf das Heck der Maschine zugesteuert. Unter dem Höhenleitwerk teilt sich ihr Weg. Sechs Türen inklusive der beiden Nottüren über den Tragflächen sollen gleichzeitig gestürmt werden, pro Tür eine Leiter und fünf Einsatzkräfte.

00.05 Uhr MEZ

Ulrich Wegener kniet unter dem Rumpf der Maschine und gibt das Kommando zum Öffnen. Dieter Fox stürmt durch die hintere rechte Tür und brüllt: „Köpfe runter! Wo sind die Schweine?“ Der erste Satz gehört zum Plan, der zweite folgt einer spontanen Eingebung, erfüllt aber seinen Zweck. „Alle da vorne.“ Nur sieben Minuten später sind alle Geiseln evakuiert. Einsatzbilanz: ein schwer verletzter GSG9-Beamter, eine am Unterschenkel verletzte Geisel, 90 Geiseln vor dem Tod bewahrt, drei tote Terroristen, eine schwer verletzte Terroristin. Helmut Schmidt kann das Rücktrittsgesuch zerreißen, das er vorsorglich verfasst hatte. „50 Prozent Können, 50 Prozent Glück“, bilanziert der heute 70-jährige Fox den Einsatz. „Wenn das schief gegangen wäre, gäbe es keine GSG 9 mehr. Unsere Leitern waren exakt vermessen – und vor Ort bei idealem Anstellwinkel plötzlich zu lang, weil die Maschine uneben stand oder die Reifen zu wenig Luft hatten. Zudem fiel unser Funksystem aus. Wegener gab die Kommandos per Handzeichen weiter. Flugzeugtüren klappen beim Öffnen zuerst ein Stück nach innen, bevor sie nach außen schwingen. Vor der vorderen rechten Tür hatten die Terroristen Container abgestellt, deshalb ließ sich die Tür nicht öffnen.“ Souhaila Andrawes, „die Dicke“, schießt durch den so entstandenen Türspalt – einem GSG9-Beamten auf der Leiter in den Hals. Sie wird in Somalia zu 20 Jahren Haft verurteilt, aber nur sechs Monate später nach Bagdad abgeschoben, lebt anschließend in Beirut und Damaskus, wird Mutter, erhält 1991 mit Ehemann und Tochter in Norwegen politisches Asyl, wird 1994 von deutschen Zielfahndern in Oslo aufgespürt, 1995 nach Deutschland ausgeliefert, 1996 in Hamburg zu zwölf Jahren Haft verurteilt, 1997 in ein norwegisches Gefängnis überführt und schon 1999 vorzeitig entlassen. Seitdem lebt sie in Oslo.

Um 04.00 Uhr MEZ

werden die Geiseln zurück nach Deutschland geflogen. Copilot Jürgen Vietor legt sich in den Gang und findet den ersten Schlaf seit 117 Stunden. Sechs Wochen später sitzt er wieder im Cockpit. Hannover-London – mit der reparierten „Landshut“, die er bis zu deren Ausmusterung noch 42 Mal fliegt. 2008 gibt er aus Protest gegen die Haftentlassung des RAF-Terroristen Christian Klar sein Bundesverdienstkreuz zurück, das ihm, den drei Stewardessen, den GSG9-Leuten sowie posthum dem ermordeten Kapitän Schumann verliehen worden war. „Täter erfahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als Opfer“, sagt der heute 75-Jährige. Nach 12 500 Flugstunden als „Co“ und später Kapitän der Lufthansa geht er in den Ruhestand. „Ohne diese Crew wäre das Landshut-Drama nicht so glücklich geendet. Und für die Familien Schumann und Schleyer ist es auch nicht glücklich geendet.“

1986 verlässt Dieter Fox die GSG 9. „Ich merkte, dass ich mit 39 Jahren an meine körperlichen Grenzen stieß.“ Er verlässt auch den Bundesgrenzschutz, weil er sich eine Anschlussverwendung in der Schreibstube nicht vorstellen mag, arbeitet als Personenschützer des US-Botschafters in Wien, als Geschäftsführer eines internationalen Security-Unternehmens und bis heute als selbstständiger Sicherheitsberater. Hatte er Angst in Mogadischu? „Angst ist gesund. Eine sinnvolle Einrichtung der Natur. Wer keine Angst hat, der macht Fehler.“

Gabriele Dillmann heiratet ihren Lebensgefährten, Lufthansa-Pilot Rüdeger von Lutzau, wird Mutter und arbeitet heute als Bildhauerin. „Selbstverständlich sind die GSG9-Leute Helden“, sagt sie 2012 dem Dokumentarfilmer Uli Weidenbach. „Wer jemals in eine solche Situation gerät, der wünscht sich von Herzen, dass diese Leute kommen und einen da raushauen.“ Nicht wenige Opfer der Entführung entgegnen unisono auf die Frage, was sie aus den fünf Tagen mitnehmen: „Die Erkenntnis, was wichtig ist im Leben. Und was alles unwichtig ist.“

Am Morgen des 18. Oktober 1977 werden Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader tot in ihren Gefängniszellen gefunden. Suizid. Die RAF teilt die Ermordung Hanns Martin Schleyers mit. Die Leiche wird im Kofferraum eines Autos im Elsass gefunden.

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