Auslöser und TherapienWas hinter chronischem Juckreiz stecken kann

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Chronischer Juckreiz ist die neue Volkskrankeit. Es kann jeden treffen, vor allem aber sind ältere Menschen gefährdet.

Chronischer Juckreiz ist die neue Volkskrankeit. Es kann jeden treffen, vor allem aber sind ältere Menschen gefährdet.

Jeder weiß, wie es sich anfühlt. Zuerst ist da nur ein leichtes Brennen, Ziehen, Kribbeln. Dann wird der Reiz so stark, dass man automatisch die Hand ausfährt und kratzt. Für wenige Momente ist alles gut. Doch bald meldet sich der Juckreiz umso stärker zurück. Man kratzt. Es juckt. Man kratzt heftiger, es juckt ärger. Man schabt mit den Fingernägeln wütend die Haut ab. Bis Blut fließt. Jucken und Kratzen – dieser Teufelskreis kann Menschen schier in den Wahnsinn treiben. Leidet jemand länger als sechs Wochen daran, spricht man von „chronischem Pruritus“. „Immer wieder erleben wir, dass Patienten zu weinen beginnen, weil sie so verzweifelt sind“, berichtet Sonja Ständer, Leiterin des Kompetenzzentrums chronischer Pruritus am Uniklinikum Münster.

Nicht nur, dass der Juckreiz allein Qualen bereitet. Hinzu kommen die Reaktionen der Umwelt. „Wenn jemand Schmerzen hat, dann tut er einem leid. Kratzt er sich aber, dann geht man auf Abstand“, sagt Ständer. Das ist eine natürliche Reaktion. Juckreiz ist nämlich ein Alarmsignal des Körpers. Ursprünglich schützte es den Menschen vor Ungeziefer: Das Kribbeln auf der Haut führte dazu, dass sich unsere Vorfahren unbewusst Ungeziefer aus dem Pelz pulten, bevor es sich einnisten konnte. Wer sich ständig kratzt, dem haftet automatisch ein „Ekel-Image“ an. Kommt hinzu, dass die Haut durch ständige Verletzungen und Entzündungen manchmal so entstellt ist, dass Patienten sich wie Aussätzige fühlen. Neurodermatologe Martin Metz leitet die Pruritus-Sprechstunde an der Berliner Charité und sagt: „Die Situation ist psychisch extrem belastend. Viele Betroffene haben deshalb sogar Suizid-Gedanken.“ So haben für eine Studie der Charité etwa zehn Prozent der Patienten mit chronischem Juckreiz angegeben, schon einmal daran gedacht zu haben, sich etwas anzutun. „Die Beschwerden schränken die Lebensqualität extrem ein“, weiß Metz. Dabei ist das Problem häufig. Experten sprechen von Volksleiden.

Demografischer Wandel

Bei Befragungen gab etwa jeder Fünfte an, schon einmal an chronischem Juckreiz gelitten zu haben. „Ich halte diese Zahlen durchaus für realistisch“, sagt Ständer. Dabei mache sich auch der demografische Wandel bemerkbar: Gerade alte Leute neigen zu juckender Haut. „Im Alter wird die Regenerationsfähigkeit der Haut schlechter und sie wird trockener“, erklärt die Hautärztin.

Oft kommen Krankheiten wie Diabetes hinzu, die mit Juckreiz einhergehen können. Viele Ältere nehmen außerdem Medikamente wie Lipidsenker – Mittel, die einen Pruritus auslösen oder ihn zumindest verstärken können.

Überhaupt ist chronischer Juckreiz ein sehr komplexes Phänomen. „Oft spielen verschiedene Faktoren eine Rolle“, so Metz. „Eine Nierenkrankheit allein löst vielleicht noch keinen Juckreiz aus. Kommt aber eine Hautbarrierestörung hinzu, kann es gut sein, dass er sich entwickelt.“ Denn das Geschehen im System Haut wird von vielen Einflüssen, etwa Hormonen und Neuropeptiden, bestimmt. Was es für Ärzte schwierig macht: Sie müssen verschiedenen Auslösern auf die Spur kommen und sie behandeln. Dabei ist die Bandbreite extrem groß: Hautkrankheiten, Schilddrüsenfehlfunktionen, Erkrankungen des Nervensystems, Leber- und Nierenkrankheiten, Tumore, Medikamente, Unverträglichkeiten – all dies kann hinter den Beschwerden stecken.

Auch verborgene Krankheiten als Auslöser

Stress kann die Probleme noch verstärken. Manchmal stoßen Mediziner bei der Ursachenforschung auf eine unerkannte Krankheit. Oft lässt sich auch nichts finden. Ständer sagt: „Beizehn Prozent der Patienten können wir keine klare Diagnose stellen.“

Wer in die Juckreiz-Sprechstunde kommt, muss als erstes „viele Fragebögen“ ausfüllen. Dazu gehört etwa: „Tritt der Juckreiz vor allem nach Wasserkontakt auf?“ Trifft das zu, könnte das ein erster Hinweis auf die Krankheit „Polycythaemia vera“ sein, bei der sich rote Blutzellen extrem vermehren. Um solchen Vermutungen auf den Grund zu gehen, folgen weitere Tests, etwa Blutuntersuchungen oder ein Ultraschall. Dabei arbeiten im Kompetenzzentrum Ärzte verschiedener Fachrichtungen zusammen, Internisten, Neurologen und Psychosomatiker.

Da die Ursachen so verschieden sind, ist die Therapie schwierig. Ein Allround-Anti-Juckreiz-Mittel lässt noch auf sich warten, wie Metz bemängelt. Außer Antihistaminika, die im Akutfall helfen können, gebe es bislang kein zugelassenes systemisches Medikament gegen chronischen Pruritus. Deshalb tun sich Mediziner, die nicht auf das Problem spezialisiert sind, oft schwer: „Juckreiz-Patienten sind für Ärzte normalerweise eine Belastung, weil unklar ist, wie man sie behandeln soll“, sagt er. Für eine umfangreiche Anamnese, wie sie in Spezialsprechstunden mehrerer Unikliniken (neben Berlin und Münster unter anderm Hamburg, Heidelberg, München) angeboten wird, sei im normalen Praxis-Alltag oft keine Zeit.

Wenn Juckreiz längere Zeit nicht oder nicht richtig therapiert wird, kann sich das aber rächen: Manchmal verselbstständigt sich die Empfindung. Vergleichbar mit dem Schmerzgedächtnis, das bei chronischen Schmerzen entstehen kann, gibt es auch ein Juckreiz-Gedächtnis.

Ähnlich wie Schmerzsignale werden Juckreiz-Signale über bestimmte Nervenbahnen ins Gehirn geleitet. Dort lösen sie den Reflex „Kratzen“ aus.

Bei einer Dauererregung kann es vorkommen, dass der Reiz bestehen bleibt, auch wenn der Auslöser – zum Beispiel Juckreiz fördernde Medikamente – nicht mehr da ist.

Mehrgleisige Therapie

Bei der Therapie fahren Mediziner in der Regel mehrgleisig. Zum einen setzen sie bei den Auslösern an: So werden zum Beispiel Alternativen zu Medikamenten gesucht, die Juckreiz verursachen. Zum anderen werden die Beschwerden direkt behandelt, also unterdrückt. Dazu wird die Haut äußerlich – etwa mit rückfettenden, juckreizmildernden Cremes – behandelt.

Zudem bekommt der Patient häufig Medikamente, die für andere Krankheiten entwickelt wurden: nämlich Antiepileptika, Opioidrezeptor-Antagonisten (die eigentlich das Verlangen nach Drogen bremsen sollen) oder Anti-Depressiva. „Patienten wundern sich manchmal, was ihnen da verschrieben wird“, sagt Ständer.

Doch das wird sich ändern. Die Expertin rechnet damit, dass in rund fünf Jahren Medikamente auf den Markt kommen, die speziell zur Behandlung des chronischen Juckreizes zugelassen sind.

Vielversprechend sind bisher vor allem Versuche mit Neurokinin 1-Rezeptor-Antagonisten: Solche Stoffe blockieren die Wirkung bestimmter Nervenbotenstoffe, die etwas Juckreiz übertragen.

Wer von chronischem Juckreiz geplagt ist, kann aber auch selbst einiges tun. „Eine sorgsame Behandlung der Haut ist extrem wichtig, dazu gehört sie im Winter vor allem gut rückfettend behandeln, durch regelmäßiges Eincremen oder mit einem Ölzusatz in der Wanne – vor allem bei Älteren.

Das hilft Patienten mit Juckreiz

Hautpflege

Wer zu trockener Haut neigt, sollte sich regelmäßig eincremen. Das ist vor allem bei kaltem Wetter wichtig und wenn man gebadet hat.

Bei der Wahl des Produkts sollte man Hauttyp und Jahreszeit berücksichtigen. Grundsätzlich gilt: Je trockener die Haut, desto fettreicher sollte die Creme-Grundlage sein.

Auslöser vermeiden

Faktoren, die häufig Juckreiz verursachen oder ihn verstärken, sollte man vermeiden. Dazu zählen raue Kleidung, häufiges Baden, überhitzte Räume, reizende Substanzen und scharfe Speisen.

Kühlen

Im Akutfall hilft oft, sich kurz kalt abzuduschen oder sich mit kühlenden Präparaten einzucremen. Auch Auflagen mit kaltem Schwarztee können den Juckreiz lindern.

Kratzreflex umleiten

Anstatt die Haut zu bearbeiten, kann man den Kratzreflex an einem anderem Objekt abarbeiten, zum Beispiel am Sofa oder einem Kissen. Manchmal hilft es auch, sich an den Stellen zu kitzeln oder zu klopfen.

Entspannungstechniken: Verfahren wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung können dazu beitragen, mit den Beschwerden besser zurechtzukommen und sich vom Juckreiz abzulenken.

Arztbesuch

Juckt die Haut längere Zeit stark, ohne dass der Grund (z.B. Insektenstiche) offensichtlich ist, sollte man zum Arzt gehen. Sonst besteht die Gefahr, dass sich der Reiz verselbstständigt

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