Dem inneren Arzt vertrauenSo nutzen Sie die Fähigkeit zur Selbstheilung

Lesezeit 9 Minuten

Prof. Tobias Esch ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher. Er lehrt an der Uni Witten/ Herdecke. Angela Horstmann sprach mit ihm über das Thema Selbstheilung.

Herr Prof. Esch, Sie haben gerade ein Buch über den Selbstheilungscode geschrieben. Das klingt ein bisschen so, als bräuchte man - wenn es mir nur gelingt, diesen Code zu knacken - künftig keine Ärzte oder Medikamente mehr....

Da muss ich Sie enttäuschen. Das Buch lesen und die Inhalte dann sozusagen einwerfen wie eine Pille und "alles ist gut", so funktioniert mein Buch leider nicht. Mir geht es nicht um eine Entweder-oder-Medizin. Vielmehr möchte ich in meinem Buch verschiedene sinnvolle Dinge zusammenführen.

Welche sind das?

Es geht um den Dreiklang, den wir in der Medizin haben. Viele objektive Befunde kann man durch Medikamente oder therapeutische Eingriffe des Arztes, etwa eine Operation, behandeln. Es gibt aber immer auch etwas, was der Patient selber zu seiner Genesung beitragen kann. Diese angeborene Fähigkeit zur Selbstregulation war schon seit Hippokrates' Zeiten ein fester Bestandteil der Medizin. Allerdings ist uns diese Fähigkeit abhandengekommen. Mit meinem Buch will ich diesen wichtigen Teil der Medizin, unseren "inneren Arzt" sozusagen, wieder mit an den Tisch bringen - seriös und wissenschaftlich begründet. Und um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Ja, es gibt sicherlich Erkrankungen oder Zustände, bei denen die Fähigkeit zur Selbstregulation zur Gesundung schon völlig ausreichen kann.

Hat diese Fähigkeit jeder von uns?

Ja, die Selbstregulation ist etwas Universelles. Weil diese Fähigkeit in der Evolution als günstig erachtet wurde, wird jeder von uns mit der gleichen Hardware, sprich einem Körper und einem Gehirn, von wo aus die Selbstregulation gesteuert wird, geboren. Allerdings sind die konkreten Werkseinstellungen, mit denen wir geboren werden, individuell und genetisch bedingt verschieden. Außerdem variiert, wie und in welchem Maße man sich im Laufe des Lebens dieser Hardware bedient.

Wenn die Evolution die Fähigkeit zur Selbstregulation als günstig erachtet hat: Warum ist der "innere Arzt" abhandengekommen?

Ein Grund liegt vermutlich in den schweren Epidemien des Mittelalters, die tausende Menschen das Leben gekostet haben. Ohne die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten späterer Jahrhunderte war man etwa der Pest einfach ausgeliefert. Diese Ohnmacht, dass man den Verlauf der Erkrankung nicht beeinflussen konnte und man plötzlich einfach starb, wurde dann zum Beispiel als Strafe Gottes interpretiert. Frömmigkeit und Gottesglaube gerieten an die Stelle des inneren Arztes. Später, Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts, dann machte die Medizin enorme Fortschritte. Auf einmal schien alles möglich, Krankheiten wie die Tuberkulose, an denen früher die Menschen starben, konnten auf einmal geheilt werden. War es früher Gott, der dafür verantwortlich gemacht wurde, waren es nun die "Götter in Weiß". Die moderne Medizin wurde auf die Pharmakologie und therapeutische Eingriffe und Prozeduren reduziert, die nicht selten als heroische Taten gefeiert wurden.

Für die Selbstheilung gab es also keinen Platz mehr in der Medizin?

Was Selbstheilung noch war und konnte, überlebte in der modernen Medizin unter dem Stichwort Placeboeffekt. Denn man erkannte sehr wohl, dass es immer noch individuelle, nicht steuerbare Faktoren gab, die einen Krankheitsverlauf beeinflussen konnten. Kurioserweise übersetzte die Medizin Placebo damals mit Irrtum. Und selbst heute spricht man noch von Irrtumswahrscheinlichkeit, wenn man den Placeboeffekt und seinen Einfluss auf wissenschaftliche Studien und "Datenverzerrungen" meint.

Dieses Bild hat sich in den letzten 15 Jahren wieder geändert?

Ja. Man weiß heute, dass der Placeboeffekt kein Irrtum ist, sondern ein Teil dessen, was immer passiert. Heute stellt keiner mehr infrage, dass es Regulationsprozesse gibt, die wir nicht von außen steuern. Inzwischen besinnt man sich wieder mehr darauf, dass es in uns ein Potenzial gibt, gesund zu bleiben. Solange wir diese Selbstregulation nicht überfordern, können wir immer wieder in den gesunden Zustand zurückkehren.

Was kann die Selbstregulation überfordern?

Stress ist eine der größten Herausforderungen der Selbstregulation. Stress ist ein Überlebensmechanismus, die biologische Antwort auf eine potenziell lebensbedrohliche Situation. Dafür werden im Körper Veränderungen begünstigt, die für Kampf und Flucht notwendig sind.

Welche sind das ?

Wenn ich zum Beispiel fliehen muss, brauche ich besser durchblutete Arme und Beine, gleichzeitig wird die Durchblutung in Regionen, die für die Flucht nicht gebraucht werden, schlechter, etwa in der Magenschleimhaut. Nicht von ungefähr also geht Stress oft mit Magenproblemen einher. Zudem verdickt sich das Blut, weil ich in einem Kampf potenziell verwundet werden könnte und nicht verbluten soll. Der Darm und auch die Blase entleeren sich, weil ich auf der Flucht möglichst wenig Ballast mittragen soll. All das sind Reaktionen, die am richtigen Ort und zur richtigen Zeit sinnvoll sind. Das Problem ist, wenn ich diese Stressreaktionen hervorrufe, obwohl mein Leib und Leben gar nicht bedroht sind - etwa weil mich meine Arbeit überlastet.

Warum ist Stress so gefährlich?

Entscheidend ist die Dauer, Dosis und Art des Stresses. Auch vermeintlich positiver Stress ist auf Dauer nicht gut. Körperlicher Stress ist zwar auch nicht gut, aber er hat in der Regel ein natürliches Ende. Mentaler Stress hingegen, der im Kopf entsteht, ist nur schwer zu begrenzen, zumal wir die Fähigkeit haben, mit den Gedanken in die Zukunft und in die Vergangenheit zu gehen. Zudem neigen wir dazu, das Negative stärker zu wahrzunehmen. Dieser gedankliche Stress schafft sich ein Eigenleben. Gefährlich wird es, wenn der Stress chronisch wird. Wer dauerhaft unter Stress steht, sorgt dafür, dass verschiedenste Entzündungsprozesse im Körper begünstigt werden, die bis auf die Zellkernebene nachweisbar sind.

Wie wirkt sich das konkret aus?

Es ist nachgewiesen, dass unter Stress chronische Wunden schlechter heilen, dass Stress Arteriosklerose fördert, weil er Entzündungsprozesse in den Gefäßen begünstigt, in die sich dann nachgelagert Kalk einlagert. Der Blutdruck steigt, Herzinfarkt oder Schlaganfall können die Folge sein. Auch Depressionen oder Migräne haben eine entzündliche Komponente und verschlechtern sich. Das alles lässt sich eindeutig herleiten. Und genau da setzen die die Mechanismen des Selbstheilungscodes an. Wichtig ist zu erkennen, dass man im Autopilot-Modus ist, dass viele Probleme selbstgemacht sind, aber auch, dass vieles veränderbar ist. Allein, dass man sich dessen bewusst wird, reicht oft schon aus, um den Autopiloten zu stoppen.

Gibt es denn Werkzeuge, mit denen ich den Autopiloten wieder stoppen kann?

Ich habe in meinem Buch vier Säulen benannt, die die Selbstregulation stärken können. Sie basieren auf jahrzehntelanger Forschung. Abgekürzt heißen sie BERN, abgeleitet von den englischen Begriffen Behaviour (Verhalten, Einstellung), Exercise (Bewegung), Relaxation (Entspannung, Meditation) und Nutrition (Ernährung). Vor allem die erste Säule ist gesellschaftlich noch relativ wenig verankert. Es geht dabei darum, dass man mit der Kraft der Gedanken eine positive Sichtweise auf bestimmte Situationen bekommt und dass zum Beispiel der Stress, den ich empfinde, wenn ich im Stau stehe, eigentlich nur in meinem Kopf entsteht. Es geht nicht darum, eine rosarote Brille aufzusetzen und sich die Welt schönzureden. Vielmehr geht es um Akzeptanz und Gelassenheit, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Doch egal auf welcher Säule ich gerade meinen Lebensstil ändern will: Selbstheilung und Gesundheit muss Freude machen.

Ist Freude und Zufriedenheit die Voraussetzung für Gesundheit?

Beide sind sicherlich nicht Synonyme für Gesundheit, aber sie sind Faktoren, die Gesundheit mit bedingen. Es ist allerdings gut möglich, dass man krank ist und trotzdem mit sich und seinem Leben zufrieden ist. Interessanterweise gibt es Studien, die zeigen, dass gerade ältere Menschen trotz ihrer körperlichen Einschränkungen eine größere innere Zufriedenheit haben. Offensichtlich haben wir, je älter wir werden, eher die Fähigkeit, uns zu "emanzipieren" und unsere Zufriedenheit vom Körper loszulösen. Da gibt es offensichtlich eine andere, spirituelle Dimension, die wir noch nicht ganz verstanden haben. Da forschen wir gerade dran. Wir möchten herausfinden, wie sich aus dem Glück der Jugend über die gesamte Lebenszeit diese innere Zufriedenheit entwickelt.

Kommen wir auf die Selbstheilungskräfte zurück. Was muss sich im Gesundheitssystem ändern, damit sie wieder fester Bestandteil des von Ihnen beschriebenen Dreiklangs in der Medizin werden?

Ich denke, bei uns ist immer noch viel zu wenig verankert, dass ein Großteil dessen, was an Gesundheit erlebt wird, im Kopf entsteht. In uns selbst. Wir Deutsche sind Weltmeister im Zum-Arzt-Gehen. Durchschnittlich 18-mal pro Jahr sucht jeder von uns einen Arzt auf. Das zeigt, dass wir die Tendenz haben, im Außen, beim Arzt, die Lösung zu suchen für alle Dinge, die im Leben nicht gut sind. Dabei ist uns sehr wohl bewusst, dass das nicht der richtige Weg ist, Wir alle kennen in unserem Bekanntenkreis Menschen, die von Arzt zu Arzt laufen, wo uns aber klar ist, dass das eigentliche Problem gar nicht allein etwa der Knieschmerz ist. Dadurch, dass wir die Lösung immer erst im Außen suchen, entmündigen wir uns selbst und berauben uns der Fähigkeit, erst einmal bei uns zu bleiben und Dinge, die nicht gut sind, auszuhalten. Da müssen wir uns definitiv mehr zutrauen und uns unseres Selbstheilungspotenzials bewusstwerden. Schließlich sind wir selber die besten Experten für uns selbst und unseren Körper. Der Patient muss also selbst mit an den Tisch - das ist sein Recht und seine Pflicht.

Und auf Seite der Ärzte, was sollte da passieren?

Ich denke, die Medizin sollte ihre Ressourcen nicht nur auf körperliche Faktoren beschränken und den Fokus auf die Wiederstellung eines körperlichen Zustandes legen - der, wenn wir ehrlich sind, manchmal nur noch schwer wiederherstellbar ist. Das treibt die Kosten im Gesundheitswesen extrem in die Höhe. Anstatt in solchen Fällen Heilung zu versprechen, sollte das Augenmerk auf Linderung gelegt werden. Zusätzlich sollte der Medizin integrativ an die Seite gestellt werden, das Gesunde zu fördern - auch im Kranken. Sprich: die Selbstheilungskräfte. Ich forsche seit Jahrzehnten im In- und Ausland an den zugrundeliegenden Mechanismen. Gleichzeitig bin ich Allgemeinarzt. Und auch Patient und Angehöriger. In all diesen Rollen kann ich die Bedeutung der Selbstheilung erkennen und in der Integration all dessen kann sie eine große Motivation und Freude sein. Für alle Beteiligten. Das würde ich gerne auch meinen ärztlichen Kollegen zurufen.

Tobias Esch: "Der Selbstheilungscode. Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit", Beltz, 335 S.,19,95 Euro

Veranstaltungen

Der Selbstheilungscode Ein unterhaltsamer Abend mit Neurowissenschaftler Prof. Tobias Esch und dem Arzt und Kabarettisten Eckart von Hirschhausen Donnerstag, 11. Mai, 17 UhrLuther-Kirche, Martin-Luther-Platz 4, 50667 Köln

Wie funktioniert Selbstheilung und wie können wir unsere Selbstheilungskompetenz stärken? Welche Übungen können uns dabei helfen? Und was muss sich in der Medizin und unserem Gesundheitssystem ändern, damit wir das Potenzial der Selbstheilungskräfte voll nutzen können? Darüber spricht der bekannte Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen mit Neurowissenschaftler Tobias Esch, Autor von "Der Selbstheilungscode".

Tickets: 14,75 Euro/12,75 EuroErhältlich im Servicecenter Breite Staße sowie unter? 0221/28 01? 0221/28 03 44 (Abocard)

www.koelnticket.dewww.abocard.de/tickets

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