Fall Lierhaus entfacht DebatteEin Aneurysma ist eine Zeitbombe im Kopf

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Monica Lierhaus und ihre Schwester Eva-Maria Lierhaus waren vor zwei Jahren zu Gast bei Beckmann.

Monica Lierhaus und ihre Schwester Eva-Maria Lierhaus waren vor zwei Jahren zu Gast bei Beckmann.

Köln – Es war ein Tag Ende März 2015, als im Gehirn von Joni Mitchell ein Äderchen platzte. Das Blutgefäß im Kopf der Folk-Sängerin muss bereits seit längerem geschwollen gewesen sein. Aneurysma (von griech.: Aufweitung) nennen Mediziner solche Ausstülpungen von Arterien, die an verschiedenen Orten im Körper entstehen können. Besonders gefährlich sind sie, wenn sie im Hirn auftreten. Oft bleiben die krankhaft erweiterten Gefäße unbemerkt, weil sie keine Symptome verursachen. Doch sollten sie reißen, "kann es desaströs werden", sagt Privatdozent Erdem Güresir, Leitender Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie an der Uniklinik Bonn. Ein Drittel dieser sogenannten Rupturen enden tödlich.

Joni Mitchell überlebte das Platzen ihres Aneurysmas nur knapp. Die Kanadierin wurde bewusstlos in ihrem Haus in Los Angeles gefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht. Vor einigen Wochen ließ die 71-Jährige auf ihrer Webseite erklären, dass sie - entgegen anderslautenden Gerüchten - das Reißen der Ader im Kopf relativ glimpflich überstanden habe. Sie könne sprechen, nur das Laufen müsse sie wieder lernen. "Ich erwarte eine komplette Heilung", schreibt sie auf ihrer Homepage. Damit beurteilt die Folk-Legende ihre Situation hoffnungsvoller als Monica Lierhaus. Die Moderatorin, bei der 2009 ein Hirn-Aneurysma entdeckt wurde, ist sechs Jahre nach der Diagnose nach eigenen Angaben gesundheitlich erst "zu 85 Prozent wieder hergestellt", wie sie in der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" erklärte. Das Interview der ehemaligen "Sportschau"-Moderatorin schlägt zurzeit hohe Wellen.

Zweifel an der Behandlung

Außer im Gehirn können gefährliche Arterienerweiterungen auch in anderen Körperregionen vorkommen. Reißt ein solches Aneurysma etwa in der Bauchaorta, ist das in vielen Fällen ein Todesurteil: Albert Einstein, Thomas Mann und Charles de Gaulle kamen auf diese Weise ums Leben. Menschen ab 65 Jahren empfiehlt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen deshalb ein regelmäßiges Ultraschall-Screening auf Bauchaortenaneurysmen, Rauchern und Patienten mit Bluthochdruck oder Diabetes sogar schon ab einem Alter von 55 Jahren. (ma)

Lierhaus zweifelt darin an, ob es gut war, das Aneurysma operativ behandeln zu lassen. Bei der Operation 2009 traten Komplikationen auf. Lierhaus wurde ins künstliche Koma versetzt, musste anschließend neu sprechen und gehen lernen. "Ich war auf dem Stand eines Kleinkinds", sagt sie rückblickend. Und: "Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen." Auch auf die Gefahr hin, dass das Aneurysma irgendwann geplatzt und sie gestorben wäre? "Dann wäre mir vieles erspart geblieben", erklärte Lierhaus. Eine Aussage, die von Behinderten-Organisationen kritisiert wurde, weil sie die Würde von Menschen mit Behinderungen verletze. Lierhaus betonte daraufhin, sie habe nur für sich persönlich gesprochen und sei keineswegs lebensmüde - und natürlich hätte sie auch vieles verpasst ohne die OP. Abgesehen von dieser Diskussion: Die prominenten Fälle Lierhaus und Mitchell stellen die Debatte um das Hirn-Aneurysma in ein schiefes Licht, findet Neurochirurg Güresir. Sie scheinen zu zeigen: Lieber nicht behandeln - das Risiko schwerer operativer Nebenwirkungen ist zu groß. "Das kann man aber so allgemein gar nicht behaupten", sagt Güresir. Der Gedanke, ein Hirn-Aneurysma zu haben, ist für viele eine Horrorvorstellung. Eine schlummernde Zeitbombe im Kopf, die tückischerweise nicht mal tickt. Wie viele Menschen eine arterielle Ausstülpung im Gehirn haben, darüber gibt es keine gesicherten Daten. Nach Schätzungen der amerikanischen Brain Aneurysm Foundation ist im Schnitt einer von 50 Menschen betroffen. Gut belegt ist nur, bei wie vielen ein Hirn-Aneurysma reißt: Solche Blutungen kommen bei sieben von 100 000 Einwohnern pro Jahr vor.

Meist keine Anzeichen

Anzeichen, die auf ein Aneurysma hindeuten, fehlen meist. "Nur, wenn die Ausstülpung etwa auf Hirnnerven drückt, können Symptome wie eine Lähmung der Augenmuskeln auftreten", erklärt Erdem Güresir. Allerdings seien solche Störungen äußerst selten und längst nicht jede Augenlähmung deute auf ein Aneurysma hin - von Schwindel und Kopfschmerz ganz zu schweigen. Nachweisen lassen sich die Ausstülpungen nur mit bildgebenden Verfahren wie einer Kernspintomografie. Deshalb sind es meist Routine-Untersuchungen, bei denen Aneurysmen entdeckt werden. Auch bei Monica Lierhaus fanden Ärzte das erweiterte Blutgefäß nur durch Zufall. Wäre es nicht entdeckt worden, Lierhaus wäre es vielleicht ergangen wie Carola Thimm. Sie ist Mitte 30 und schwanger, als ihr beim Einrichten des Kinderzimmers schwindelig wird. Sie schiebt es auf die Schwangerschaft. Am Pfingstmontag 2004, auf ihrer Walking-Runde durch ihren schleswig-holsteinischen Heimatort, geschieht es dann: "Ein stechender Schmerz jagt durch meinen Kopf. In der Ferne sehe ich einen Spaziergänger auf einem der Felder, über mir zieht ein Bussard seine Kreise. Sein Schrei ist das Letzte, was ich in diesem Moment wahrnehme - dann ist plötzlich alles schwarz." So beschreibt Carola Thimm in ihrer Autobiografie "Mein Leben ohne mich" (Patmos-Verlag, 19,99 Euro) den Moment, als das Aneurysma in ihrem Kopf platzte. Danach liegt sie fünf Jahre lang im Koma. Die Entbindung ihrer Tochter per Kaiserschnitt nimmt sie nicht wahr. Vieles andere bekommt die Wachkoma-Patientin dagegen mit: "Ich habe mich geärgert, weil ich mich nicht verständlich machen konnte. Ich habe alles gehört und alles gesehen", sagt sie. Thimm brauchte Jahre für den Weg zurück in die Normalität.

Früherkennung möglich

Dazu hätte es nicht kommen müssen, wenn das Aneurysma frühzeitig entdeckt worden wäre. Eine von den gesetzlichen Kassen bezahlte Screening-Untersuchung auf die seltene Erkrankung gibt es aber nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie sprach sich 2012 gegen ein Massen-Screening aus: Das Gefühl, mit einer "Zeitbombe" im Kopf zu leben, sei für viele Patienten schwer erträglich. Einzig Menschen, deren nahe Angehörige an einem Aneurysma leiden, wird eine Untersuchung empfohlen. Auch Erdem Güresir fände einen allgemeinen Check nicht sinnvoll: "Ich glaube, dass man nur nach etwas suchen sollte, das man behandeln möchte. Und ein Aneurysma muss man nicht immer behandeln."Ob und wie ein Aneurysma therapiert werden sollte, hängt vom Einzelfall ab. Schließlich ist eine erweiterte Arterie für sich allein noch nicht problematisch. Gefährlich wird es erst, wenn sie reißt. "Diese Blutungswahrscheinlichkeit hängt davon ab, wo das Aneurysma liegt und wie groß es ist", erklärt Güresir. Es gelte: je größer, desto gefährlicher. Ist der Durchmesser gering und liege es an einem "sicheren" Standort, rate er dazu, abzuwarten und die Arterie jährlich zu beobachten. "Aber bei Patienten, die verunsichert sind, mit Wahrscheinlichkeiten zu argumentieren, ist oft schwer."So entscheiden sich viele Patienten für eine Operation. Der Eingriff kann von außen oder von innen erfolgen: Beim sogenannten Clipping wird mit einem Operationsmikroskop am offenen Gehirn eine Klammer (ein Clip) auf das Aneurysma aufgebracht, sodass es von der Blutzirkulation ausgeschlossen ist.

Das zweite Verfahren heißt Coiling (ein Coil ist eine Spirale aus einer Platinlegierung). Dabei wird über die Leiste ein Katheter in die Hirnbasis-Arterien vorgeschoben, mit dessen Hilfe das Aneurysma mit Platinspiralen gefüllt wird. Bei beiden Methoden liegt das Risiko für eine Komplikation - vom Bluterguss bis zum Schlaganfall - bei lediglich drei bis vier Prozent. Zum Vergleich: Das Risiko, nach einer Aneurysma-Blutung binnen eines Jahres zu sterben, ist zehnmal höher. Dass sich Patienten wie Monica Lierhaus vor diesem Hintergrund für eine Operation entscheiden, ist verständlich. Joni Mitchell und Carola Thimm hätten den Eingriff womöglich auch riskiert. Sie wussten nur nichts davon.

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