Fataler Irrweg in die NordseeDas Rätsel der gestrandeten Wale

Lesezeit 6 Minuten
Kraftakt in Schleswig Holstein – Der Tonnen schwere Pottwal wurde mit enormem Aufwand abtransportiert.

Kraftakt in Schleswig Holstein – Der Tonnen schwere Pottwal wurde mit enormem Aufwand abtransportiert.

Zwischen den Herzmuscheln und den Miesmuscheln tobte vor langer Zeit ein erbitterter Krieg um die Vorherrschaft am Strand. Te Pu-whakahara, der Vater der Wale, beobachtete das Geschehen amüsiert: Vielleicht sollte man das kleine Viehzeug mal vor ein richtiges Problem stellen – und den eigenen Kindern gleichzeitig eine gute Mahlzeit verschaffen? Die Idee schien ihm gut, und so führte er die Wale zur Attacke auf die kleinen Strandbewohner. Das aber erwies sich als fatal. Denn die Herzmuscheln vergruben sich im schützenden Sand. Die großen Meeressäuger aber blieben hilflos auf dem Trockenen liegen – und starben.

Wale im Europäischen Atlantik

Insgesamt 60 000 Kilometer haben Forscher zwischen der Straße von Gibraltar und dem südlichen Vestfjord in Norwegen zurückgelegt, um die Wale und Delfine im europäischen Atlantik zu zählen. Im Sommer 2016 waren sie für das Projekt namens SCANS-III mit drei Schiffen und sieben Flugzeugen unterwegs.

Beobachtet haben die internationalen Wissenschaftler Tausende Wal-Gruppen, die zu 19 Arten gehörten. Aus der Stichprobe ließ sich dann die Gesamtzahl der Tiere hochrechnen.

Der Zählung zufolge schwimmen in dem 1,8 Millionen Quadratkilometer großen Untersuchungsgebiet etwa 1,5 Millionen Wale und Delfine. Am häufigsten ist der Gewöhnliche Delfin mit rund 468 000 Tieren, auf den Plätzen zwei und drei folgen der Schweinswal mit 467 000 und der Streifendelfin mit 372 000 Tieren.

Die größeren Wale sind deutlich seltener. Sie jagen in den Off-Shore-Gebieten nach Tintenfischen und gehören zu den tieftauchenden Arten.

Das Forscherteam errechnete für das Gebiet 26 000 Pilotwale, 14 000 Pottwale und 11 000 Tiere verschiedener Schnabelwal-Arten. Die Bartenwale, die ihre Nahrung mittels großer Hornplatten in ihrem Maul aus dem Wasser filtern, sind dabei mit 18 000 Finnwalen und 15 000 Zwergwalen vertreten.

Vergleiche mit früheren Laut Zählungen von 1994 und 2005 sind die Bestände von Schweinswalen, Weißschnauzen-Delfinen und Zwergwalen mehr als 20 Jahre lang erfreulicherweise stabil geblieben sind.

So erzählt es jedenfalls eine alte Sage der Ureinwohner Neuseelands. Wissenschaftler hätten allerdings gern eine etwas realistischere Erklärung dafür, dass rund um die Welt immer wieder Wale stranden. Denn diese oft tödlich endenden Dramen geben nach wie vor Rätsel auf. Schädigt der Lärm im Meer das Gehör und damit den Orientierungssinn der Tiere? Verschwimmen sie sich, wenn Sonnenstürme das Magnetfeld der Erde verändern? Spielen Giftstoffe oder Krankheiten eine Rolle?

„Es gibt Dutzende von Theorien darüber, was hinter solchen Strandungen steckt“, sagt Ursula Siebert, die das Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover leitet. Keine der Erklärungen aber scheint auf alle Ereignisse zu passen. Siebert und ihre Kollegen haben zum Beispiel zwölf der dreizehn Pottwale untersucht, die im Januar und Februar 2016 an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste gestrandet waren. Das Team des ITAW, das sich in Büsum an der Nordsee speziell mit der Erforschung von Wassertieren befasst, wird oft mit toten Meeressäugern konfrontiert.

„In Schleswig-Holstein stranden bis zu 300 Wale pro Jahr“, sagt Siebert. Meist handelt es sich dabei um Schweinswale, die mit einer Länge von etwa 1,80 Metern zu den kleineren Mitgliedern ihrer Verwandtschaft gehören. Doch es sind auch immer wieder Vertreter größerer Arten dabei. Im vorletzten Winter aber kamen an den Nordsee-Küsten ungewöhnlich viele Pottwale zu Tode. In Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Dänemark und Deutschland haben Wissenschaftler damals insgesamt 30 ausnahmslos männliche Wale gezählt. Allein in Schleswig-Holstein und Niedersachsen waren es 16.

So ein toter Koloss muss in der Regel erst einmal mit schwerem Gerät geborgen und an einen geeigneten Ort für die Untersuchung gebracht werden. Also ein Gelände, auf dem keine hygienischen Probleme zu befürchten sind – aber reichlich Platz. So waren die gestrandeten Pottwale noch nicht ausgewachsenen – und dennoch zwischen zehn und zwölf Meter lang und 15 bis 18 Tonnen schwer. Um mehr über ihre Nahrung und mögliche Gesundheitsprobleme herauszufinden, musste das Team ihnen die inneren Organe entnehmen. Da brachte es allein der Darm eines jungen Meeresriesen auf eine Länge von bis zu 150 Metern.

„Um so ein großes Tier überhaupt obduzieren zu können, brauchen wir eine spezielle Ausrüstung“, sagt Siebert – große Fleischer- und Flensmessern, wie sie auch von Walfängern verwendet werden. Neben Haken und Ketten kommen zwei Bagger zum Einsatz, mit deren Schaufelkonstruktion sich große Stücke vom Körper abschneiden und wegziehen lassen.

Einer der gestrandeten Pottwale riss während des Transports auseinander und musste direkt entsorgt werden. Über die zwölf übrigen aber haben die Experten des ITAW und ihre Partner eine ganze Menge erfahren. Wissenschaftler der Universität Potsdam haben einen Blick ins Erbgut der Tiere geworfen. Der verriet, dass die Gestrandeten alle aus dem Atlantik stammten, aber nicht direkt miteinander verwandt waren.

Plastikmüll im Magen eines der gestrandeten Pottwale.

Plastikmüll im Magen eines der gestrandeten Pottwale.

Schon länger ist bekannt, dass um die Azoren herum eine Pottwal-Population lebt, deren Männchen den Winter im nahrungsreichen Nordatlantik verbringen. Auf dem Rückweg von dort müssen die Wanderer versehentlich in die Nordsee abgebogen sein. „Möglicherweise passiert das jungen, unerfahrenen Tieren besonders leicht“, sagt Siebert. Jedenfalls waren alle untersuchten Bullen noch nicht geschlechtsreif, die Jahresringe in ihren Zähnen verrieten ein Alter zwischen zehn und 15 Jahren. Als die Tiere einmal in die Nordsee geraten waren, schwammen sie instinktiv weiter nach Süden – dorthin, wo das Meer immer flacher wird. Das Echolot, mit dem sie sich orientieren, funktioniert in solchen Regionen nur schlecht. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Grund liefen und sich nicht mehr befreien konnten. Ihr eigenes Gewicht drückte ihnen dann die Blutgefäße, die Lunge und die anderen Organe zusammen und führte zum Herz-Kreislauf-Versagen. Um herauszufinden, warum die Wale überhaupt in die verhängnisvolle Nordsee abgebogen sind, sind Forscher aus den fünf betroffenen Ländern gemeinsam auf Spurensuche gegangen. „So konnten wir einige Ursachen ausschließen“, sagt Siebert. Weder gab es in der fraglichen Zeit ungewöhnliche Sonnenaktivitäten noch Militärmanöver, bei denen das laute Sonar das Gehör der Tiere hätte schädigen können. Und auch sonst attestierten die Forscher den Tieren ein gutes Gesundheitszeugnis. In ihren Mägen und Därmen haben Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel rund 110 000 Tintenfisch-Schnäbel gefunden. Die meisten davon stammten vom Nordischen Köderkalmar und vom Europäischen Flugkalmar – Arten, die in der Norwegischen See und der Barentssee, sowie vor Island leben.

Allerdings schleppten vier Pottwale auch Mengen von Plastikmüll mit sich herum – Schoko-Verpackungen, Eimer, Autoteile. „Vermutlich haben sie mit dem Plastik gespielt und es dabei verschluckt“, sagt Siebert. Auf Dauer hätten die Tiere damit wohl gesundheitliche Probleme bekommen. Mit der Strandung hatte der Müll im Magen aber nichts zu tun. Die erklären sich die Forscher eher mit den milden Temperaturen und den starken Stürmen im vorletzten Winter. Möglicherweise haben diese Wassermassen und Kalmare aus der Norwegischen See südwärts in die Nordsee gedrückt. „Die Wale könnten ihrer Beute hinterher geschwommen sein“, sagt Siebert – eine Theorie, die schwer zu beweisen sei.

Vielleicht steckt in der neuseeländischen Geschichte vom fatalen Appetit der Meeressäuger ja doch ein Körnchen Wahrheit. Nur wurden sie wohl nicht von Muscheln ins Verderben gelockt, sondern von Tintenfischen.

Rundschau abonnieren