Interview mit ExpertinWarum Kindern zwingend Grenzen brauchen

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Kinder brauchen Grenzen

Kinder brauchen unbedingt Grenzen, sonst fühlen sie sich verloren.

Dr. Martina Leibovici-Mühlberger ist Psychotherapeutin und leitet ein Erziehungsberatungsinstitut in Wien. Christina Rinkl hat mit ihr gesprochen.

Frau Leibovici-Mühlberger, Ihr Buch heißt "Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden". Kinder als Tyrannen, das hatten wir vor ein paar Jahren doch schon einmal - im Werk von Michael Winterhoff.

Zuerst: Mein Buch ist kein Buch gegen böse Kinder oder böse Eltern. Mir geht es darum, die heutige Orientierungslosigkeit der Eltern zu charakterisieren. Sie führt zu einer großen Erziehungslüge. Viele Eltern kommen ihrem Erziehungsauftrag ja gar nicht mehr nach.

Sie schreiben, dass viele Eltern heute ihre Kinder nur noch begleiten und nicht mehr erziehen wollen. Woher kommt das nach Ihrer Meinung?

In unsere Gesellschaft haben wir uns seit etwa 25 Jahren die große Freiheit auf die Fahnen geschrieben. Es ist ja auch eine charmante Idee, dass wir das Beste aus uns machen können. Dass wir nicht mehr Schuster werden müssen, nur weil unser Vater es war. Daran glauben wir als Gesellschaft und diese Überzeugung tropft natürlich auch in unsere Erziehung. Eltern wollen das Beste, möglichst das Allerbeste für ihr Kind.

Das ist doch schön.

Das Problem ist, dass Eltern beängstigt sind, Grenzen zu setzen, denn das könnte ja die volle Potenzialentfaltung ihres Nachwuchses behindern. Das Ganze gipfelt unter anderem in einem Förderwahn. Babyschwimmen, musikalische Früherziehung, Rhetorikkurs für Kleinkinder - für viele muss das heute sein und das Ganze muss auch noch immer und unbedingt Spaß machen, schließlich leben wir in einer Spaßgesellschaft.

Wo ist das Problem?

Viele Kinder lernen heute keine Sekundärtugenden mehr. Sehr viele Dinge brauchen nun einmal Geduld und Beharrlichkeit, und nicht alles ist immer lustig. Der Sohn fängt erst mit Gitarre an, dann mit dem Piano - bis er auch das wieder fallen lässt. Und die Eltern haben das Gefühl, sie müssten immer wieder neu nachlegen, damit ihr Kind und sie auch ja nichts verpassen. Dabei sind diese Eltern in erster Linie selbstverliebt. Die Idee, dass sich Kinder mit maximaler Freiheit bestmöglich entfalten, stimmt einfach nicht.

Warum denn nicht?

Die Folge dieser Idee sind frustrierte Kinder, die dann spätestens mit dem Schulbeginn die erste große Klippe nehmen müssen. Es mag sein, dass Kinder heute reifer sind als früher, gleichzeitig klagen Pädagogen, dass es große Mängel an Konzentration und Aufnahmefähigkeit gibt. Vor allem die eigenen Bedürfnisse aufzuschieben, fällt ihnen schwer, wenn sie als Prinz oder Prinzessin durch ihre ersten Jahre getragen wurden. Die Selbstorganisation funktioniert nicht, sie haben kaum Bereitschaft, etwas zu leisten, jede Kritik erleben sie als Kränkung. Später entwickeln sich dann oft noch größere Probleme.

Verhaltensoriginell, chillbewusst und leistungsverweigernd - so beschreiben Sie die Jugendlichen, die in ihre Praxis kommen.

Ja, das sind die Auswirkungen. In Wahrheit lassen wir unsere Kinder im Stich, wenn wir sie nicht erziehen. Denn irgendwann schlagen sie in unserer beinharten Leistungsgesellschaft auf. Immer mehr bleiben frustriert an dieser Klippe hängen und wenden sich von den Eltern ab.

Dabei haben diese doch alles getan für ihr Wunschkind.

Genau so ist es, viele Eltern haben sich aufgerieben für ihr Kind, oft unter großem Selbstverzicht. Doch irgendwann sagen die Eltern: "Jetzt bist du 25 und wir bald in Rente, jetzt ist Schluss mit drei verschiedenen Studiengängen, wir können dir nicht mehr so viel ermöglichen." Und das ist dann der Punkt, an dem sich der junge Mensch verraten fühlt, der bisher im Hotel Mama gelebt hat. Sein einziges Mittel ist dann die Abwendung, weil er sich im Stich gelassen sieht. In Wahrheit hat ihn die Gesellschaft im Stich gelassen.

Wie meinen Sie das?

Die moderne Konsumgesellschaft beutet Kinder rücksichtslos aus. Süßigkeiten werden im Laden so platziert, dass schon Zweijährige sie mühelos erreichen können. Heute muss es regelmäßig der Indoorspielplatz sein, das übervolle Kinderzimmer, die Städtereise, das neueste Handy, mit drei schon der Ballettunterricht. Und das alles, damit die Eltern von sich sagen können "Wir machen unsere Sache gut!" Dabei brauchen Kinder eigentlich etwas ganz anderes.

Eltern sollten die Bedürfnisse der Kinder erfüllen, nicht nur deren Wünsche, finden Sie.

Ja, Kinder brauchen Anleitung, Führung, Bindung und Beziehung. Eltern sollten keine Angst vorm Durchgreifen haben, man kann ein Kind auch ruhig mal ein halbes Jahr warten lassen und schauen, ob der Wunsch Gitarre zu spielen, wirklich echt ist. Da verpasst man kein Zeitfenster. Eltern müssen Grenzen vorgeben, ungeniert und ohne schlechtes Gewissen.

Wie haben Sie das eigentlich geschafft? Sie haben vier Kinder und immer viel gearbeitet.

Der Vater meiner Kinder hat sich seine Arbeitszeit immer gut einteilen können, das war unser Vorteil. Und dass wir in einem Drei-Generationen-Haushalt gelebt haben. Meine Eltern waren also fast täglich in die Betreuung involviert. Nach dem zweiten Kind bin ich aus dem Krankenhaus weg, auch wegen des Schichtdienstes. Heute bin ich mein eigener Dienstherr und gut in der Selbstorganisation. Die Kinder, die noch zu Hause leben, sind bis etwa 15 Uhr außer Haus, und spätnachmittags kommen wir dann alle zusammen. Dafür setze ich mich dann abends um 21 Uhr oft nochmal an den Schreibtisch. Mein Vorteil ist, dass ich wenig Schlaf brauche.

Warum wollen so viele Eltern bester Kumpel sein? Warum gieren sie so nach der Anerkennung ihres Kindes?

Sie sind durch unser Konsumideal im gesellschaftlichen Würgegriff. Viele haben ein schlechtes Gewissen und Angst, dass ihr Kind Schaden nimmt oder etwas versäumt, sobald sie Stopp sagen. In unserer Onlineberatung kommt immer wieder dieselbe Frage: "Ich kann meinem Kind finanziell nicht alles ermöglichen, was es will. Was kann ich tun?"

Was raten Sie diesen Eltern?

Meine Praxis in Wien liegt im dritten Stock, 20 Meter über der Erde. Ich habe einen kleinen Kaiserbalkon, der ist etwa 40 Zentimeter lang. Manchmal gehe ich mit Eltern da raus und frage: "Wie fühlen Sie sich hier?" Wenn Sie dann sagen "gut", dann frage ich: "Und wie würden Sie sich fühlen, wenn ich jetzt das Geländer entfernte? Genau so geht es Ihrem Kind." Grenzen sind auch ein Schutz, sie müssen altersgerecht sein und ein Kind soll und darf im Raum darin experimentieren, aber vorgeben müssen sie die Eltern.

Wie funktioniert das denn in der Freizeitgestaltung? Das geht doch fast gar nicht ohne Konsum.

Schauen Sie, wenn ich mit meinen vier Kindern ins Kino gehe und auch noch eine coole Mama sein will und Popcorn kaufe, bin ich 100 Euro los. Das ist viel Geld. Dann habe ich lautes Entertainment, aber nichts an Kommunikation. Ich kann aber auch fünf Käsebrote schmieren und wir gehen gemeinsam mit einer Decke in den Wald. Wir spazieren und reden, und dann passiert viel zwischen uns, das ist gemeinsames Erleben.

Nicht jedes Kind mag Spaziergänge.

Es kann auch gemeinsames Kartoffelschälen sein, das Abendessen herrichten, einen Kuchen backen was auch immer. Aber an dem lässt sich natürlich nichts verdienen, am Indoorspielplatz dagegen schon.

Ist denn wirklich alles so schlimm?

Mir macht das alles in der Tat Sorgen, vor allem im Hinblick auf die nächste Generation. Eine Schuldirektorin hat mir kürzlich gesagt: 20 Prozent meiner Schüler werden den Eintritt in den Beruf nicht schaffen. Das ist hart. Da geht es doch um das persönliche Lebensunglück dieser Kinder. Und diese von ihnen oft zur Schau getragene Pampigkeit verweist ja nur auf eine tiefe Verunsicherung.

Oder liegt es an Ihrer spezifischen Perspektive einer Kinder- und Jugendtherapeutin?

Natürlich kommen zu mir die Kinder, an denen sich die Problematik am schärfsten illustriert. Aber unser Therapeuten-Vorteil ist, dass wir auch retrograd, also rückwirkend analysieren können. Viele Jugendliche, die heute in meine Praxis kommen, waren schon mit neun oder zehn Jahren auffällig. Damals mögen das Einzelfälle gewesen sein. Unser liberales Lebensmodell begann seinen umfassenden Erfolgszug vor etwa 25 Jahren, aber es erreicht erst jetzt seine volle Blüte. Und in der Gruppe der heute Neun bis Elfjährigen sind viel mehr Therapiebedürftige als noch vor 25 Jahren.

Eine Generation, auf die wir im Alter nicht zählen können, wie Sie schreiben. Die uns später nicht pflegen wird.

Ja, erstens weil die nächsten Generationen schlanker heranwachsen, es gibt immer weniger Kinder. Und zweitens greift die Generationenverbindlichkeit nicht mehr. Unsere Kinder leben den Gedanken der Ich-AG, nur noch wenige haben die Bereitschaft, in der Familie altruistisch zu handeln. Dazu kommt die Mobilität, Kinder wohnen heute oft weit weg von ihren Eltern. Die meisten werden ihre Eltern nicht pflegen, weil sie nur das tun, was ihnen unmittelbar nützt. Damit bewegen wir uns von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft, also einer Gesellschaft, in der auch im Privaten die Gesetze des Marktes gelten.

Wie Eltern Kinder zu Narzissten machen

Dr. Eddie Brummelmann forscht an der Universität Amsterdam über Kinder und Narzissmus. Seine Kollegen und er befragten 565 niederländische Kinder zwischen sieben und elf Jahren sowie deren Eltern über einen Zeitraum von zwei Jahren. Das Ergebnis: Wenn Eltern ihre Kinder ständig überhöhen und sie darin bestärken, etwas ganz Besonderes zu sein, fördern sie deren Narzissmus. Die Kinder, deren Eltern fanden, ihr Nachwuchs sei besser als andere Kinder, wiesen später narzisstischere Charaktere auf. Sie reagierten überempfindlich auf Kritik und konnten sich nur schlecht in andere einfühlen. Nach Ansicht der Wissenschaftler ist Narzissmus also auch ein Resultat übertriebener elterlicher Zuwendung - und gleichzeitig nicht zu verwechseln mit einem hohen Selbstwertgefühl. Eltern, die ihrem Nachwuchs viel emotionale Wärme entgegenbringen, stärkten deren positives Selbstwertgefühl.

"Ein Grund für den zunehmenden Narzissmus ist, dass unsere Gesellschaft immer individualistischer wird", sagt Brummelman. "In der modernen Gesellschaft werden viele Kinder dazu erzogen, ihr individuelles Selbst über die soziale Gruppe zu stellen und aus der Gruppe herauszustechen als sich ihr anzupassen." Begonnen habe diese Entwicklung in den 1970er Jahren. Um ihren Kindern zu helfen, besseres Selbstbewusstsein zu entwickeln, haben viele Eltern seit dieser Zeit angefangen, ihre Kinder auf ein imaginäres Podest zu heben und sie zu überhöhen. "Was aber eher deren Narzissmuss gefördert hat, als Selbstwertgefühl", so der Wissenschaftler.

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