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Passagiere ausgetrickstIm Flieger soll uns mehr Raum vorgegaukelt werden

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Unendliche Weiten: Im Projekt VR-Hyperspace arbeiten Wissenschaftler daran, Passagieren das Enge-Gefühl zu nehmen.(Foto: VRH)

Unendliche Weiten: Im Projekt VR-Hyperspace arbeiten Wissenschaftler daran, Passagieren das Enge-Gefühl zu nehmen.(Foto: VRH)

Der Kampf beginnt meist direkt nach dem Einsteigen, und er beginnt am Nebenschauplatz. Doch wer im Flieger die Lufthoheit über eine Armlehne frühzeitig an den Sitznachbar abgibt, wird es spätestens nach Ende des Steigflugs bereuen. Wenn die Anschnallzeichen erlöschen, schwingen - oft ansatzlos und ohne Vorwarnung - im Bruchteil einer Sekunde die Rückenlehnen der Vorderleute nach hinten. Und dann ist jeder Zentimeter wertvoll, der zumindest seitlich als Komfortzone verbleibt.

Es ist eng geworden in Flugzeugen. Und das mit voller Absicht: Um ihre Maschinen so rentabel wie möglich zu machen, quetschen die Fluglinien so viele Sitze wie möglich in die Kabinen. Auch die deutschen: In den vergangenen 60 Jahren haben Flugpassagiere bei uns exakt 10,1 Zentimeter an Sitzabstand verloren. Und das, obwohl die Menschen in der gleichen Zeit viel größer geworden sind: Alleine in den vergangenen 15 Jahren legten deutsche Männer im Schnitt um zwei Zentimeter auf 1,80 Länge zu, Frauen werden mit 1,67 Meter im Schnitt einen Zentimeter größer als damals.

Mehr Potenzial in der Breite

Wichtig ist, den verwendeten Maschinentyp vor dem Flug zu prüfen. Die meisten Fluglinien bieten Sitzpläne ihrer Flotte im Internet, auf denen sich bevorzugte Sitze ausmachen lassen. Beim elektronischen Check-In können diese dann frühzeitig gewählt werden.

Günstig sind oft Sitzreihen am Übergang von der einen Klasse zu der nächsten, da zur jeweiligen Trennwand mehr Abstand bleibt. Manche Airlines nehmen allerdings einen Aufpreis für Economy-Sitze mit mehr Beinfreiheit. Oft lässt sich das nach dem Abheben aber per Nachfrage beim Flugpersonal umgehen, falls solche Plätze nicht besetzt worden sind.

Für Plätze in Notausgangsreihen gelten besondere Regeln. Wer körperlich fit ist und die jeweilige Sprache des Bordpersonals versteht, kommt aber auch hier auf Nachfrage oft noch unter.

In der Länge scheint der Spielraum ausgepresst. "Nach unten geht da nicht mehr viel", sagt ein Flottenmanager einer deutschen Fluglinie. Aber es bleibt ja noch die Breite. Die schrumpfte seit den Anfängen der Economy Class in den Fünfziger Jahren von 58 Zentimeter auf heute meist 43 Zentimeter - trotz der wachsenden Wohlstandsbäuche der Nachkriegsgesellschaft. Und hier sehen die Fluglinien noch echtes Potenzial. In Airbus' Langstreckenjet A330 können künftig neun statt acht Sitze nebeneinander gebaut werden. Im Riesenflieger A380 sollen es elf statt zehn sein, kündigte Konzernchef Tom Enders kürzlich auf einer Flugschau in Paris an - natürlich alles auf Kundenwunsch. Denn vorgeschriebene Mindestabstände für Sitze gibt es in der durchgenormten Welt der Luftfahrt keine. Hersteller geben eine maximale Sitzzahl an - und dann entscheidet der "90-Sekunden-Test": Bei dieser Evakuierungsübung muss der Flieger in der engsten Variante unter erschwerten Bedingungen dennoch in anderthalb Minuten zu räumen sein. Klappt das, können die Fluglinien den Flieger so nutzen. Wollen die Firmen ihre Gäste noch enger zusammenrücken lassen, muss erneut getestet werden.

Jeder Zentimeter mehr kostet

"Bei den genannten Bauvorschriften handelt es sich um Mindestanforderungen für die Sicherheit", sagt Cornelia Cramer, Sprecherin des Luftfahrtbundesamtes. "Der Komfort spielt dabei bislang keine Rolle." Wegen der Gefahr von Thrombosen sowie der immer ausladenderen Fluggäste gebe es "Überlegungen, ob es sinnvoll ist, die Vorgaben für den Evakuierungstest zu verändern und eventuell einen Mindestabstand zu fordern", so Cramer. "Allerdings gibt es noch keine konkreten Ergebnisse und auch keine neuen gesetzlichen Grundlagen."

So lange bestimmen die Fluglinien das Maß der Dinge an Bord. Sie experimentieren zwar derzeit alle mit Sitzabständen und Flugklassen, doch die Grundformel ist einfach: Jeder Zentimeter oder Inch mehr kostet die Kunden auch mehr. Europas größte Fluglinie, die Lufthansa, führt zum Beispiel bis Herbst in rund 100 Flugzeugen die "Premium Economy" ein. Diese bietet neben einigem Schnickschnack vor allem mehr Platz als die gewöhnliche Holzklasse: 17 Zentimeter mehr Abstand, 10 Zentimeter mehr Seitenraum. "Zielgruppe sind etwa Geschäftsreisende, die als Reiserichtlinie Economy Class haben", sagt Florian Gränzdörffer, NRW-Sprecher der Lufthansa, "aber auch Privatleute, die sich was gönnen." Mit der neuen Klasse schafft es die Fluglinie, 236 Sitze in einem Airbus A330 unterzubringen. Vorher waren es 221 - in exakt dem gleich großen Flieger.

First Class fällt ganz weg

Dafür fällt zum Beispiel von NRW in die USA die First Class ganz weg. "Der Bedarf in der Luxusklasse ist in den vergangenen Jahren ohnehin gesunken", sagt der Flottenmanager. "Nun versuchen alle, umsatzmäßig das Beste daraus zu machen." Ein Ticket für die Premium Economy, so Gränzdörffer, koste nach Asien oder in die USA etwa 600 Euro mehr als der Normalplatz. Allerdings kosten die neu entwickelten Sitze den Konzern auch erst einmal richtig Geld: Dank Unterhaltungs-Elektronik und Leichtbau entspricht jeder neue Sitz dem Gegenwert eines VW Golf.

Der kleine Luxus für zahlungswillige Normalverdiener erhöht den Druck in der Economy Class. Schließlich wächst das Fluggeschäft vor allem dort. Da sollten trotz neuer Mittelklasse möglichst mehr Sitze verfügbar sein. Doch wie weit lässt sich Enge steigern? Längst ist diese zum Problem an Bord geworden: "Früher hat man Platzfragen pragmatisch untereinander geregelt, heute werden diese eher über die Crew ausverhandelt", sagt der Flottenmanager. Einige Passagiere griffen zur Notwehr und blockierten die Rückenlehnen der Vorderleute mit kleinen Geräten namens "Knee-Defender" - bis diese fast überall verboten wurden.

Das Projekt "VR - Hyperspace"

Die Lösung soll nun die Technik bringen - aber nicht die Luftfahrttechnik, sondern virtuelle Realität. Unter dem Projektnamen "VR - Hyperspace" arbeiten neun europäische Einrichtungen unter anderem daran, Fluggäste in der Enge in simulierte Weiten zu entführen und ihnen so das Enge-Gefühl zu nehmen. Aus Deutschland ist auch das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart dabei. "Wir haben im ersten Abschnitt gezeigt, dass das mit unserem Ansatz funktioniert", sagt Matthias Bues, Teamleiter für visuelle Technologien. Das IAO konstruierte einen Flugzeugkabinenaufbau aus Displays, mit dem Flugzeugwand und Innenraum transparent geschaltet werden können. Statt des Kopfes des Vordermannes sehen Fluggäste in dieser Kabine zum Beispiel die Umgebung des Fliegers wie in einer gläsernen Kabine - nicht real, sondern als simulierte Projektion. Sie bleiben eingepfercht, fühlen sich aber frei schwebend.

Nächster Schritt sei nun, die Technik näher an den Einsatz im echten Flugzeug zu bekommen, sagt Bues. "Es ist ein Riesenaufwand nötig, damit technische Geräte überhaupt abheben dürfen." Denn dafür gibt es strenge Vorgaben - anders als für den Sitzabstand. Große Sorge, dass das Projekt scheitern könnte, hat er nicht. Zum einen verbesserten technische Entwicklungen wie dünne Displayfolien die Chancen auf Realisierung. Zum anderen steige durch den Wettbewerb in der Luftfahrt der Druck auf die Airlines. Diese bräuchten Lösungen. Den Passagieren das Enge-Gefühl zu nehmen, ist eine davon.

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