Treuer BegleiterSo helfen Hunde Menschen mit Behinderungen im Alltag

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„Keck!“, ruft Christian Laage seinen Hund. Das Tier legt den Kopf zur Seite, schaut ihn aufmerksam an. Er ist bereit. Vorsichtig zieht Christian seinen Pullover den Rücken hinauf – den Rest erledigt Keck. Der Hund packt den Stoff mit dem Maul und zerrt an dem Kleidungsstück, bis er es Christian ausgezogen hat.

Die Prozedur ist für Christian so hilfreich, weil der 17-Jährige im Rollstuhl sitzt und seine Motorik eingeschränkt ist. Er leidet am Louis-Bar-Syndrom, einer Systemerkrankung, die sich nach einer meist ungestörten Entwicklung zum Beispiel auch in Sprachstörungen äußert. Dank Keck ist Christian mittlerweile nicht mehr nur auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen. „Löcher in den Oberteilen hat es zum Glück noch nicht gegeben“, sagt Christians Mutter Beate Laage mit einem Schmunzeln. Sie ist froh, dass Christian den Assistenzhund an seiner Seite hat.

Die Sozialpädagogin Tatjana Kreidler hat den Hund in Hümmerich, im Norden von Rheinland-Pfalz, ausgebildet, wo sie auch den Verein VITA im Jahr 2000 gegründet hat. Seitdem schult sie Retriever, um sie Kindern und Erwachsenen mit Handicap zur Seite zu stellen. Zuvor hat sie mit Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung gearbeitet und bemerkt, welchen positiven Einfluss ihr eigener Hund hatte. „Ich habe gesehen was das für einen Menschen bedeutet, dass ein Lebewesen etwas für einen tut und das gerne macht – ohne ihn bitten zu müssen“, erinnert sie sich. Heute bestehen mehr als die Hälfte der 50 VITA-Teams aus Kindern und Hunden.

Familie Laage besucht wie alle VITA-Teams das Ausbildungszentrum regelmäßig. Sie nehmen an Trainings teil, um sich weiterzubilden, aber auch, damit Trainerin Kreidler beobachten kann, ob sich Mensch und Tier wohl fühlen. „Dem Hund muss es gut gehen, damit er dem Menschen helfen kann“ sagt sie. Dabei zeigen die Teams auch gerne, was sie zu Hause geübt haben.

Hilfe ohne Gemecker

Keck, der Retriever mit dem auffällig hellen Fell, kann Christian nämlich nicht nur den Pullover ausziehen. Das funktioniert auch mit Schuhen, die der Hund auf Befehl gekonnt von Christians Füßen zieht, sobald der Jugendliche den Klettverschluss löst. Christian kann sich nicht mehr weit genug hinunter bücken, um die Schuhe selbst auszuziehen. Der Hund hilft ihm – und im Gegensatz zum Menschen, beschwert er sich nie. „Die beiden haben eine ganz eigene Verbindung“, sagt die Trainerin.

Denn um solch komplizierte Aufgaben zu bewältigen, müssen die Hunde eine anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen. Die Welpen, die Tatjana Kreidler zu Assistenzhunden ausbilden möchte, wachsen zunächst bei einer Patenfamilie auf. Dort lernen sie mit Alltagssituationen umzugehen. Anschließend genießen sie eine Grundausbildung bei Kreidler, lernen das Anhalten an Bordsteinkanten oder das Apportieren von Gegenständen. Im anschließenden Aufbautraining üben sie sicher an einem Rollstuhl zu gehen. „Das ist eine durchaus schwierige Aufgabe“, sagt VITA-Sprecherin Juliane Tatusch. Und der Rollstuhlfahrer müsse darauf achten, dem Tier nicht über die Pfoten zu fahren. Besonders bei Keck und Christian ist das wichtig. „Unser elektrischer Rolli wiegt 130 Kilogramm“, sagt Beate Laage.

Mit dem Aufbautraining ist die Ausbildung aber noch lange nicht abgeschlossen. Wenn sich ein Team aus Hund und Mensch gefunden hat, lernt das Tier weitere auf den Besitzer abgestimmte Fähigkeiten. So wie Keck das Schuh-Ausziehen erlernt hat.

Bis sich so ein eingespieltes Team wie der helle Retriever und Christian gefunden haben, vergeht jedoch viel Zeit. An die vielen Wochen im Ausbildungszentrum kann sich auch Jakob Mansel gut erinnern. „Du bist natürlich für den Hund erst einmal jemand, mit dem er gar nicht rechnet“, sagt der 20-jährige Student über den Moment, als er seinen pechschwarzen Retriever Watson kennengelernt hat. Auch Jakob sitzt im Rollstuhl. Er leidet an einer infantilen Zerebralparese, eine körperliche Behinderung, bei der Bewegungsabläufe beeinträchtigt sind und das Zusammenspiel der Muskeln nicht funktioniert. „Man selbst ist aber auch aufgeregt und will sofort loslegen“, berichtet Jakob. Aber sofort gehe das eben nicht.

Der Verein

Vita e.V. Assistenzhunde ist ein gemeinnütziger Verein, der Kindern und Erwachsenen mit körperlicher Behinderung einen Assistenzhund zur Seite stellt. Diesen Menschen kann der Hund eine große Hilfe sein und ihnen zu Unabhängigkeit verhelfen.

Im März 2000 wurde Vita von der Sozialpädagogin Tatjana Kreidler in Frankfurt gegründet. Im Jahr 2007 erhielt Vita als erster Verein auf dem europäischen Festland die Zertifizierung der Assistance Dogs Europe (ADEu) – ein Gütesiegel, das belegt, dass Vita nach höchsten internationalen Standards arbeitet. Die Krankenkassen übernehmen keine Kosten. Ein ausgebildeter Assistenzhund kostet im Durchschnitt 25 000 Euro. Der Verein finanziert sich über Spenden, Sponsoren und Fördermitglieder. Prominente wie ZDF-Moderatorin Dunja Hayali unterstützen den Verein. Kontakt:

Vita e.V. Assistenzhunde

Karlshof 1a

53547 Hümmerich

Tel.: 02687 / 921 41 0

info@vita-assistenzhunde.de

Die Ausbildung kostet nicht nur viel Geld – rund 25 000 Euro, die meist der Verein VITA durch Spenden finanziert – sondern erfordere viel Geduld, weiß Jakob. Manchmal sei es auch frustrierend, wenn es mal nicht so kappt, wie erhofft. „Wir müssen immer darauf achten, dass wir vom Hund und von uns selbst nicht zu viel verlangen.“

Jakobs Hund Watson bleibt nicht lange auf seinem Kissen liegen. Sobald sein Herrchen ihn ruft, läuft er schwanzwedelnd zu ihm, erhält eine verdiente Kuscheleinheit. Eine weitere Übung steht nämlich auf dem Programm: Apportieren. „Eine Lieblingseinheit von Watson“, schwärmt Jakob mit einem breiten Lächeln. „Was er für eine Freude daran hat!“ Draußen vor dem Trainingszentrum erstrecken sich weite Felder am Rand des kleinen Örtchens Hümmerich – perfekt für die Aufgaben der VITA-Teams. Dass Watson ordentlich und ruhig für Jakob Dinge aufheben kann, ist für den Kölner Studenten sehr wichtig. „Ich nehme ihn auch mit in die Vorlesungen und zu den Seminaren“, sagt Jakob, der sich im Studium mit Sozialer Arbeit beschäftigt. „Wenn mir da ein Stift vom Tisch fällt, hebt ihn mir Watson auf. Das ist toll.“ Probleme habe es wegen des Hundes in der Uni nie gegeben. Auch seine WG-Mitbewohner haben kein Problem mit Watson. „Alle haben ihn akzeptiert“, sagt Jakob. Ein Leben ohne Hund kann er sich nicht mehr vorstellen.

Ähnlich ist es auch bei Familie Laage. „Zuerst war ich ja gegen einen Hund“, gibt Mutter Beate Laage mit einem Lächeln zu. Doch als sie von dem Konzept der Assistenzhunde erfuhr, ließ sie sich von ihrem Mann und ihrem Sohn überzeugen. Mittlerweile ist sie froh, dass Keck zu ihrer Familie gehört. Christian, der in Anwesenheit von Fremden nur sehr zögerlich spricht, blühe dank des Hundes auf. „Manchmal frage ich mich, warum er so lange draußen ist. Anschließend erfahre ich, dass er sich mit einem Passanten unterhalten hat. Durch den Hund kommt man schnell ins Gespräch,“ erzählt Laage.

Dass Christian überhaupt wieder alleine draußen ist, sei ein kleines Wunder. Keck gebe ihm Sicherheit und Selbstbewusstsein, sagt Beate Laage: „Christian meinte mal zu mir: »Wenn ich mit Keck unterwegs bin, fühle ich mich frei.«“

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