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Trügerische ErinnerungenWir erinnern uns an Dinge, die es nie gegeben hat

Lesezeit 7 Minuten

„Ich muss es doch genau wissen. Ich hab es schließlich selbst erlebt!“ Diese Sätze sind ein starkes Argument. Viele Menschen glauben, das Gedächtnis sei so etwas wie ein Videofilm, unbestechlich und unveränderlich. Dabei gibt es kaum etwas Trügerischeres und Beeinflussbareres als unsere Erinnerungen. „Wenn es um unser Gedächtnis geht, sind die Begriffe Wahrheit und Lüge nicht sehr hilfreich“, sagt der niederländische Gedächtnisforscher Douwe Draaisma.

Buchtipps

Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser, München 2016. 304 S.,

22 Euro.

Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten. Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung. Galiani, Berlin 2016. 256 S., 16,99 Euro.

Das beginnt schon bei Kleinigkeiten. Ein Beispiel: Ein Paar geht spazieren. Bei der Rückkehr zu ihrem Haus merken beide, dass sie den Schlüssel vergessen haben. Und es beginnt ein Streit: „Ich hatte dir doch extra noch gesagt: Steck' den Schlüssel ein!“ – „Nein, hattest du nicht. Du wolltest ihn einstecken.“ So kann das weitergehen, ohne dass beide das wirkliche Geschehen je rekonstruieren werden.

Und nicht nur das. Es ist sogar möglich, dem Gehirn Erinnerungen an Ereignisse einzupflanzen, die nie passiert sind. Das behauptet die Londoner Kriminalpsychologin Julia Shaw. „Selbst die kostbarsten Erinnerungen an unsere Kindheit lassen sich formen und umformen wie eine Kugel aus Lehm“, sagte die 1987 in Köln geborene Buchautorin.

Shaw berichtete über ihre eigenen Versuche, Gedächtnisse zu hacken. Bereits nach drei Sitzungen sei es ihr gelungen, im Gehirn von Probanden die Erinnerung zu verankern, dass sie einst in der Schule mit einem Stein auf eine Mitschülerin losgegangen seien. Um das zu erreichen, knüpft Shaw an Ereignissen aus der Jugend an, die sie etwa von den Eltern der Teilnehmer erfahren hat. Sie fügt schrittweise Erfundenes hinzu und fordert die Probanden auf, sich die angeblich erlebten Szenen immer wieder bildlich vorzustellen. Tatsächlich schreibt sich die scheinbare Erinnerung ins Gedächtnis der meisten ein, als hätten sie sie wirklich erlebt. Die Erfolgsquote soll bei 70 Prozent liegen.

Solche Pseudoerinnerungen hat wohl jeder Mensch. Viele unbewusst. So erinnerte sich ein Genfer Psychologe zum Beispiel daran, dass er als Kind beim Spaziergang mit seinem Kindermädchen beinahe von einem fremden Mann entführt wurde. Er sah die Szene direkt vor sich, bis ins Detail. Später gab das ehemalige Kindermädchen zu, die Geschichte nur erfunden zu haben, weil sie sich eines Tages sehr verspätet hatte. Die Erzählungen seiner Eltern über die scheinbare Entführung hatten diese falsche Erinnerung in dem Jungen ausgelöst.

Fehlinformationseffekt bereits in den 70er Jahren bekannt

Dass man Erinnerungen zu jeder Zeit fälschen kann, ist keine neue Erkenntnis. Bereits in den 1970er-Jahren erforschte die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus den sogenannten Fehlinformationseffekt. „Setzt man die Zeugen eines Geschehens nachträglich neuen und irreführenden Schilderungen eines Ereignisses aus, so werden ihre Erinnerungen daran verzerrt“, schrieb sie 1998. Bis dahin hatte sie mit ihren Studenten mehr als 200 Experimente mit 20 000 Teilnehmern durchgeführt. Bei vielen war es gelungen, nicht nur Erinnerungen zu verzerren, sondern sogar ganz neue einzupflanzen. Das gelingt besonders, wenn diese sich in den Rest der Lebensgeschichte einfügen lassen und etwa ein Familienmitglied behauptet, das Ereignis habe wirklich stattgefunden.

Die Art der Frage kann das Gedächtnis beeinflussen

So erinnerten sich Menschen plötzlich bildhaft und mit allen Gefühlen, dass sie als Kind einmal in einem Einkaufszentrum verloren gingen. Das funktionierte bei etwa jedem dritten Probanden. In anderen Studien konnten sich Menschen plötzlich genau entsinnen, dass sie einst in einem Laden aus Versehen die Sprinkleranlage auslösten und alle Kunden fliehen mussten.

Solche Gedächtnis-Manipulationen sind gewiss umstritten. Aber Elizabeth Loftus ging es bei ihren Studien auch ganz gezielt darum, Fachleute zu sensibilisieren. Sie wollte Kriminalisten und Psychologen zeigen, wie leicht sie selbst mit ihren Fragen das Gedächtnis beeinflussen können. „Alles in allem beweisen diese Studien, dass Fehlinformation unsere Erinnerungen in gezielter und oft gründlicher Weise zu verzerren vermag – indem wir mit anderen Menschen darüber sprechen, suggestiv befragt werden oder in den Medien auf Berichte über ein Ereignis stoßen, das wir selbst miterlebt haben“, schreibt Loftus. Sie warnte unter anderem klinische Psychologen davor, ihre Patienten zu sehr anzuregen, „ihrer Fantasie völlig freien Lauf zu lassen“, um angeblich verdrängte Geschehnisse hervorzuholen. Auf diese Weise seien sogar vermeintliche Missbrauchsfälle „ans Tageslicht“ gekommen, die sich als unwahr herausstellten.

Manipulation nicht nur von außen

Das Gedächtnis lässt sich aber nicht nur von außen beeinflussen. „Erinnerungen verändern sich bei uns selbst“, sagte der Historiker Norbert Frei aus Jena in einem Radiointerview. Man erinnere sich zehn Jahre nach einem Ereignis anders als 20 oder 30 Jahre danach. Dabei habe man noch in den 1930er-Jahren gedacht, Erinnerungen seien nahezu unverändert und ließen sich in winzig kleinen Gehirnspuren lokalisieren, erzählt der niederländische Gedächtnisforscher Douwe Draaisma. Doch sie sind etwas höchst Komplexes. „Erinnerungen haben assoziative Verbindungen mit Bildern, Geräuschen und Gerüchen irgendwo im Gehirn gespeichert“, sagt Buchautor Draaisma. „Sie lassen, wiederum in anderen Teilen des Gehirns, Emotionen anklingen.“ Erinnerungen seien genauso organisch wie das Gewebe, in dem sie gespeichert sind.

Emotionen spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Erinnerungen. Der Psychologe Hans J. Markowitsch von der Universität Bielefeld fasste zusammen: „Ohne Gefühle gibt es keine Erinnerung.“ Denn im Gehirn bestehen zwischen dem für die emotionale Bewertung von Reizen zuständigen Mandelkern – der Amygdala – und dem für die Einspeicherung neuer Gedächtnisinhalte wichtigen Hippocampus enge Verbindungen. Bei emotionalen Ereignissen werden Botenstoffe ausgeschüttet, vor allem Noradrenalin. Sie fördern die Neubildung und Stärkung von Nervenzellverbindungen, auf denen das Gedächtnis beruht.

Erinnerungen werden immer wieder neu geformt

Jedes Mal, wenn eine Erinnerung aufgerufen werde, erfolge ein neuer Speicherprozess, erklärt Hirnforscherin Daniela Schiller im Fachjournal Technology Review. Erinnerungen befänden sich in einem instabilen Zustand und würden immer wieder umgeformt. Das bedeutet, dass sich über einen biochemischen Prozess auch die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen verändern. „Wir erinnern uns nicht an die Originalversion, sondern an deren Überarbeitung durch das Gehirn.“

Gerüche lösen

intensive Gefühle aus

So erzählte eine Frau zum Beispiel, dass ihr einmal beim Geschirr-Abwaschen ein Erlebnis aus ihrer Kindheit eingefallen sei. Dieses hätte gar nicht mit der Situation des Abwaschens zu tun gehabt. Und dennoch falle ihr dieses Erlebnis von nun an immer ein, wenn sie abwasche. Was bewirkte diese neue Verknüpfung im Gehirn? Vielleicht hat ein bestimmter Sinneseindruck ganz unbewusst die Erinnerung an das Kindheitserlebnis hervorgerufen. Vielleicht spielte ein bestimmter Geruch eine Rolle.

Welche intensiven Gefühle bestimmte Gerüche aus der Vergangenheit auslösen können, weiß jeder, der sich in eine Wohnung zurückdenkt, in der er früher gelebt hat. Wie roch es bei der Oma, wie in der Schule Vor einigen Jahren wies die amerikanische Geruchsforscherin Rachel Herz bei Probanden anhand von Hirnmessungen nach, dass bei vertrauten Gerüchen der Vergangenheit die für Emotionen zuständigen Hirnbereiche besonders intensiv reagieren.

Doch so intensiv Erinnerungen sein können – es sind immer subjektive Momentaufnahmen. Das Gedächtnis arbeitet eben nicht wie eine Filmkamera. Erinnerungen bestehen eher aus Schnappschüssen, verbunden mit Sinneseindrücken und Gefühlen. Die extremste Form sind sogenannte Blitzlichterinnerungen, dramatische, mitunter traumatische Momente. Wohl viele Menschen haben plastisch die Situation abgespeichert, in der sie waren, als am 11. September 2011 die Flugzeuge ins World Trade Center flogen oder ein naher Freund verunglückte. „In einer Blitzlichterinnerung kann gespeichert sein, wer einem eine schockierende Nachricht erzählte, aber auch, dass der Brillenbügel von Klebeband gehalten wurde“, sagt Draaisma.

Das autobiografische Gedächtnis entsteht erst nach dem dritten Lebensjahr. Davor fallen alle Erlebnisse der sogenannten kindlichen Amnesie zum Opfer. Darauf weisen die Forschungen des Sozialpsychologen Harald Welzer und des Neurowissenschaftler Hans J. Markowitsch hin. Offenbar sind alle Erinnerungen davor durch Erzählungen vor allem der Eltern, geprägt.

Wie das Gedächtnis einen täuschen kann, hat wohl jeder schon erlebt. Plötzlich erkennt man im Gespräch, dass man ein Ereignis in eine falsche Zeit eingeordnet hatte. Oder man glaubt, einer Person begegnet zu sein, der man unmöglich begegnet sein kann. Nicht wenige schmücken bei jedem Erzählen eine Begebenheit immer weiter aus, bis sie selbst davon überzeugt sind, dass sie wirklich so passiert ist. Die Psychologie nennt so etwas Rückschaufehler. Auch Historiker und Biografen sind davor nicht gefeit. Draaisma warnt: „Historiker müssen sich gegen die Neigung wappnen, unmittelbare Kausalzusammenhänge zu identifizieren, die Zeitgenossen überhaupt nicht hätten sehen können.“ Denn niemand der heute Lebenden weiß, wie man in 30 Jahren auf die heutige Zeit zurückblicken wird.

In bestimmten Fällen könnte es hilfreich sein, Erinnerungen gezielt zu löschen. Etwa ein Viertel aller Menschen komme im Laufe des Lebens mit einem traumatischen Ereignis in Berührung, schreibt Draaisma. Dazu gehören Unfälle, Erdbeben und Gewaltverbrechen. Jeder siebte Betroffene kann das Trauma nicht überwinden.

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