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Wege aus der MediensuchtZu viel Zeit am Smartphone – Was Eltern tun können

Lesezeit 7 Minuten
Beim Spielen, Zocken oder Chatten erleben Kinder und Jugendliche kontinuierlich Glücksgefühle.

Beim Spielen, Zocken oder Chatten erleben Kinder und Jugendliche kontinuierlich Glücksgefühle.

Köln – Ole geht nicht mehr zur Schule. Und das schon seit einem halben Jahr. Der Grund: Ole muss spielen. Und zwar das Online-Spiel Fortnite. Gemeinsam mit seinem Team bekämpft der 14-Jährige in der virtuellen Welt andere Teams. Je länger er spielt, desto besser klappt das. Doch Ole will unbedingt noch besser werden. Täglich sitzt er zwölf, 15 oder 18 Stunden am Rechner. Für die Schule hat er keine Zeit, sie interessiert ihn einfach nicht mehr. Seine Mutter ist ratlos. Feste Computerzeiten, Strafen, Hausarrest: nichts hat geholfen. Als sie eines Abends aus Verzweiflung den Strom in der Wohnung abstellt, eskaliert die Situation. Ole flippt aus und schlägt auf seine Mutter ein, bis diese die Polizei und den Rettungsdienst alarmiert.

Was sind die Hintergründe?

Dr. Armin Claus ist Leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln-Holweide. Er behandelt immer häufiger Kinder und Jugendliche wie Ole. „Wir verzeichnen seit zehn Jahren einen steilen Anstieg beim Thema Mediensucht. Sie ist inzwischen oft nicht nur Neben- sondern Hauptdiagnose.“ Betroffen sind vor allem Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Die Spiele, die sie spielen heißen Fortnite, Overwatch, Fifa, Minecraft oder Call of Duty. Spätestens, wenn die Betroffenen für längere Zeit die Schule verweigern, wird ihre Sucht auch im weiteren Umfeld auffällig. In solchen Fällen ordnet nicht selten ein Familienrichter den Besuch beim Psychiater an. „Aber selbst dann sehen viele ihr Problem nicht ein. Oft ist dann schon ein Schuljahr verloren“, sagt Claus.

Warum ist Online so attraktiv?

Das Spielen, Zocken oder Chatten beschert den Teenagern eine intensives Erlebnis von Interaktivität und damit eine große Ausschüttung von Dopamin. Sie erleben kontinuierlich Glücksgefühle. Die modernen Plattformen sind genau darauf ausgerichtet und machen das Spielen immer attraktiver. Eine Steigerung der eigenen Fähigkeiten funktioniert nur, wenn der Spieler immer mehr Zeit darauf verwendet. Wenn die Freizeit dafür nicht ausreicht, verlagern manche das Spielen in die Schulzeit. „Der Süchtige tut alles, um an seinen Stoff zu kommen“, weiß der Kinderpsychiater. Nicht bei allen läuft es so dramatisch. Doch mit Hilfe von Apps und Internetplattformen können Jugendliche eigene Ideen mit großem Gestaltungsfreiraum umsetzen, das macht diese attraktiv. Auf Youtube oder „Musical.ly“ bekommen Kinder innerhalb von Sekunden Rückmeldung und Anerkennung aus dem Netz. Bei dem Spiel „Fifa“ können sich schon Kinder zum erfolgreichen Fußballtrainer hocharbeiten. „Bei diesem und ähnlichen Spielen entsteht schnell ein Gemeinschaftsgefühl. Und das Zugehörigkeitsgefühl ist eines der stärksten Bedürfnisse des Menschen“, erklärt die Sozialpädagogin und Sucht-Expertin Kristina Tietze. „Außerdem: Die Spiele im Netz bieten Orientierung, die Kinder und Jugendliche im echten Leben oft vermissen. Im Netz gibt es klare Regeln. Wer sich nicht daran hält, fliegt sofort raus.“

Warum werden manche Kinder süchtig?

Meist liegt es an der persönlichen Situation. Oft war das Kind schon vor seiner Medienabhängigkeit in einer schwierigen Situation. Jungen und Mädchen, die soziale Probleme haben, sind besonders anfällig für Mediensucht. Wer sich unsicher fühlt, kann das in der virtuellen Welt ausgleichen. In dieser können sich Spieler andere Namen und Charakterstärken geben – sich so präsentieren, wie sie es sich im normalen Leben niemals trauen würden. Sie nehmen andere Identitäten an und werden als erfolgreicher Spieler von anderen geschätzt. Das Darstellen der eigenen Spielerqualitäten hat in den letzten Jahren immer größere Ausmaße angenommen: Viele Spieler stellen Spiel-Sequenzen von sich selbst ins Internet. So können die, die es mitunter nicht mehr schaffen zur Schule zu gehen, in der Online-Welt zum Lehrer werden.

Was treibt Mädchen in die Mediensucht?

Bei Mädchen sind es meist nicht die Spiele, sondern die sozialen Netzwerke, von denen sie sich nicht mehr entfernen können. Auf WhatsApp, Snapchat und Instagram dreht sich alles um die Fragen: Wer stellt sich wie dar und wer bespricht gerade was mit wem? Welche Infos muss ich gerade haben in meiner Peergroup? Mit der App „Musical.ly“ lassen sich eigene kleine Musikvideos drehen, die dann von anderen geliked werden können. In die Klinik für Psychotherapie kommen mitunter Mädchen, die ihr Handy nicht einmal mehr während des Duschens ablegen.

Wie helfen die Profis?

Für abhängige Jugendliche ersetzt das Handy die Langeweile und ist zu einem wichtigen Selbstwert-Faktor geworden. Die Fragestellung in der Therapie ist dann: Durch was lässt sich das ersetzen? Viele Betroffene haben Angst vor dem direkten Kontakt mit anderen Jugendlichen, da sich diese oft über sie lustig gemacht haben. Die Therapeuten arbeiten daran, das Selbstwertgefühl der Patienten zu stärken. „Neben der Diagnose sind wir in der Klinik oft nur Weichensteller, danach arbeiten die Kinder mit niedergelassenen Psychologen weiter“, so Armin Claus. Sozialpädagogin Kristina Tietze von der Drogenhilfe Köln ergänzt: „Uns geht es zunächst darum, wieder in die Kommunikation zu kommen. Wie geht es den Kindern, wie den Eltern? Viele Kinder geben zu, dass es ihnen mit dem exzessiven Medienkonsum gar nicht gut geht.“ Die Frage, die hinter allem steht: Warum macht dieses Kind das? Welches Bedürfnis befriedigt es mit diesem Spiel oder mit seinem exzessiven YouTube- oder Chat-Konsum? Dann werden in der Beratung Regeln und Vereinbarungen für die Mediennutzung aufgestellt, und zwar gemeinsam mit allen Familienmitgliedern. Wenn sie selbst mitreden können, fällt Kindern das Befolgen leichter.

In der Therapie und Beratung wird auf das gesamte Familiensystem und dessen Medienkonsum geschaut. Denn mehr als 80 Prozent der Medienabhängigen sind nicht Kinder, sondern Erwachsene. In vielen betroffenen Familien sind es nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern, die ständig am PC abtauchen.

Weitere wichtige Fragen: Wie viele Medien sind im Zimmer des Jugendlichen stationiert? Oft ist es das Smartphone, der Laptop, ein TV-Gerät und eine Spielekonsole. Eltern sollten attraktive Anreize neben den Medien schaffen. Wie wird die gemeinsame Freizeit verbracht? Wird gemeinsam am Tisch gegessen? Die Experten müssen also ziemlich tief ins familiäre System einsteigen. Und nicht einfach nur das Kind „reparieren“, damit es endlich wieder anständig zur Schule geht.

Was können Eltern tun?

Eltern müssen sich interessieren für das was ihre Kinder im Netz tun. Auch wenn das im Alltag nicht immer einfach ist. Eltern sollten ihre Kinder immer wieder fragen: Wie heißt das Spiel, das du gerade spielst? Zu fast jedem Spiel gibt es Zusammenfassungen im Netz, etwa auf spieleratgeber-nrw.de.

Vieles bleibt den Eltern unergründlich, wenn sie nicht die Zeit oder das Zutrauen haben, diese Spiele einmal selbst durchzuspielen. „Jedes Kinderbuch mit Gewalt- oder Pornoszenen würde man sich als Elternteil ja auch durchblättern, um zu sehen, was sich die Kinder da ansehen“, so Claus. Eltern sollten mit einer positiven Grundhaltung an das Thema heran gehen, so wie an eine neue Sportart des Kindes. Es hilft, sich die Faszination vom Kind selbst erklären zu lassen, denn das wird auch von diesen selbst positiv bewertet. Allerdings nur, wenn das Interesse zu einem frühen Zeitpunkt kommt. Sind die Fronten schon verhärtet, nützt das nicht mehr viel. Eltern können sich auch an Drogen- oder Familienberatungsstellen wenden, oft gibt es auch die Möglichkeit zur Telefon- oder Online-Beratung.

Was ist an Smartphone und Co so problematisch?

Sie ganz zu verbieten, macht in unserer digitalen Welt keinen Sinn. Smartphones sind auch für Erwachsene nützliche Alltagshelfer. Doch die digitalen Medien sind noch ein relativ neues Phänomen. „Viele Eltern haben noch keine eigene Haltung dazu entwickelt. Das ist das Problem“, sagt Kristina Tietze. Eltern sind in einem Zwiespalt: Sie lieben ihre Kinder und möchten ihnen auch bezüglich Medien etwas bieten; merken aber, dass der exzessive Konsum dem Nachwuchs nicht gut tut. „Nur wenn Eltern wissen, was sie wollen, können sie auch konsequent in der Umsetzung ihrer Regeln sein“, so Tietze. Das gibt den Kindern Sicherheit. „Wenn keine Regeln da sind, wird es für die Kinder schwammig und sie machen sich ihre Regeln selbst. Eltern müssten sich neben ihrem Standpunkt auch also klare Konsequenzen überlegen. Damit können Kinder viel besser umgehen als mit einem ständigen Hin und Her.“

Elternwerkstatt

Medienabhängigkeit – Wenn Smartphone & Co. süchtig machen Dienstag, 12. Juni, 19 Uhr studio dumont Breitestraße 72 Neue Medien gehören zum Alltag. Aber was ist, wenn junge Menschen Augenmaß und Selbststeuerung verlieren? Wenn sie nicht mehr offline sein können? Wie bei allem, was Suchtpotential hat, braucht’s informierte Eltern und Pädagogen, Prävention und fachliche Hilfe. Darüber informieren und diskutieren Dr. Armin Claus, Städt. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Köln-Holweide, und Sozialpädagogin Kristina Tietze, Referentin Drogenhilfe Köln. Moderation: Wolfgang Oelsner Pädagoge und Kinder-/ Jugendlichenpsychotherapeut Prof. Dr. Christoph Wewetzer, Leiter der Städt. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Köln-Holweide

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