Wirkungslose AntibiotikaWie uns Profitgier, Globalisierung und Leichtsinn bedrohen

Lesezeit 7 Minuten

Das Thema ist ziemlich komplex, gleichermaßen zur Hysterie wie zur Verdrängung einladend, im Kern sogar dramatisch existenziell. Keine Medikamenten-Gruppe hat die Lebenserwartung des Menschen so gesteigert wie Antiobitika. Nun wirken sie weltweit schlechter und im Einzelfall gar nicht mehr.

Menschen denken bei Bakterien an Wesen, die ihnen mindestens Ungemach und manchmal sogar den Tod einbrocken. Tatsächlich leben Mensch und Mikrobe in symbiotischer Eintracht. So trägt der Mensch zehnmal mehr Bakterien in sich als eigene Körperzellen. Die „fremde Fracht“ bringt es auf rund zwei Kilogramm Gewicht – Billionen Kleinstlebewesen, die nicht nur in unserem Mund und Darm zentrale Dienste leisten, sondern auch einen Schutzwall gegen Eindringlinge bilden.

Das uralte Denkmuster „Wir: gut – die: böse“ hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Das erkannte bereits Joshua Lederberg (1925-2008), der Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 1958: „Das Mikrobiom zu verstehen, bedeutet zu erkennen, dass wir in einem kooperativen Miteinander leben – in einer Art Waffenruhe.“

Alles zum Thema Robert Koch-Institut

Lebensbedrohliche Infektionen

Schaffen es indes die Erreger, den mikrobengestützten Wall zu überwinden, und hat auch die menschliche Immunabwehr keine Antwort auf die Eindringlinge, können diese lebensbedrohliche Infektionen (etwa Cholera, Syphilis, Tuberkulose, Blutvergiftung, Lungenentzündung) auslösen. Von Viren und Bakterien ausgelöste Epidemien haben die Entwicklungsgeschichte des Menschen seit jeher begleitet. Der Mensch blieb aber nicht untätig.

Auf der Intensivstation: Der tägliche Abwehrkampf gegen multiresistente Keime erfordert eine akribische Umsetzung der Hygiene-Standards. Immungeschwächte Patienten sind besonders betroffen.

Auf der Intensivstation: Der tägliche Abwehrkampf gegen multiresistente Keime erfordert eine akribische Umsetzung der Hygiene-Standards. Immungeschwächte Patienten sind besonders betroffen.

Erst versuchte er es mit mehr Hygiene, dann gelang die Impfung gegen Viren, schließlich entdeckte der schottische Bakteriologe Alexander Fleming 1928 in einer Petrischale, dass Staphylokokken sich nicht vermehrten, wenn sie vom Schimmelpilz Penicillium notatum „berührt“ wurden. Fleming erkannte die Dimension seiner Beobachtung, die letztlich bedeutete: Im Reich der Mikroben existieren bereits Kampfstoffe für den Einsatz untereinander. Doch bis zu einer industriellen Penicillin-Produktion dauerte es noch 15 Jahre – auch deshalb, weil Mediziner glaubten, dass eine für Bakterien tödliche Substanz kaum die menschliche Gesundheit fördern könne.

Schließlich folgte ein ungeahnter Siegeszug der Antibiotika, die Typhus, Syphilis, Tuberkulose und viele andere Geißeln der Menschheit ausmerzten. Dass 1948, im Gründungsjahr der Weltgesundheitsorganisation (WHO), noch weltweit 25 Millionen Menschen von der Syphilis dahingerafft wurden, ist heute kaum mehr im Bewusstsein.

Das Schwert Antibiotika ist stumpf geworden

Doch seit 1999 meldet die WHO 12 Millionen Neuinfektionen. Bei der Tuberkulose, dem Schreckgespenst des 19. Jahrhunderts, sieht es kaum anders aus. Selbst vermeintlich harmlose Infektionen beschwören inzwischen lebensbedrohliche Situationen herauf, weil das schärfste Schwert, die Antibiotika, stumpf geworden ist. Da gibt es ständig Resistenzalarm in deutschen Krankenhäusern, und im Januar meldete die US-Seuchenbehörde, dass eine Frau gestorben sei, weil 26 verschiedene Antibiotika nicht mehr wirkten. Für sie war der Pillenschrank leer.

Indes war die Entwicklung absehbar. „Der qualitative und quantitative Einsatz von Antibiotika ist äquivalent zur Resistenzentwicklung“, erklärt Professor Helmut Tschäpe vom Robert-Koch-Institut (RKI), dem Bundesinstitut für Infektionskrankheiten. Heißt: Wer viele Antibiotika verbraucht, befeuert die Gegenevolution der Bakterien. Leider werden nicht mehr ausreichend neue Wirkstoffe entwickelt, weil es sich nicht lohnt.

Sieben Tage Antibiotika – und die Infektion ist vorbei. Rechnen tun sich dagegen Arzneien gegen Dauerleiden wie Bluthochdruck, Diabetes oder Hepatitis C. So wenig, wie der Markt ohne gesetzliche Leitplanken die Treibhausgase verringert, so wenig kann er bei der Antiobiotika-Nutzung das biologisch Sinnvolle tun. Warum soll eine Pharmafirma einen Wirkstoff entwickeln, wenn er nur extrem sparsam eingesetzt werden soll? Oder andersherum: Er verliert um so schneller seine Wirksamkeit, je häufiger er verwendet wird.

Im Krankenhaus lauert Gefahr

Nun bröckelt das aus mehr Hygiene, Impfungen und Antibiotika errichtete Bollwerk. Ausgerechnet dort, wo Menschen sich Hilfe oder Rettung versprechen, lauert Gefahr: Die Krankenhäuser kämpfen jeden Tag gegen multiresistente Keime (MRE), damit sie nicht Patienten erreichen. Dazu gehören nicht nur Frischoperierte mit Wunde und Katheter, Chemotherapierte oder Organtransplantierte, sondern meist allgemein ältere Schwerkranke. Sie sind anfälliger als gesunde Menschen. Dabei sind MRE-Keime keineswegs infektiöser als nicht-resistente, aber für immungeschwächte Patienten sind sie ein zusätzliches Risiko. Der Mensch hat die Resistenzbildung beschleunigt – mit einer Mischung aus Leichtsinn, Profitgier und Globalisierung. „Fast 30 Prozent der Antibiotika-Verordnungen waren mit Blick auf die Diagnose fragwürdig“, ergab eine Analyse der Arzneimitteldaten der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK).

Antibiotika in Mastställen

Vor allem aber kippen Nutztier-Produzenten Unmengen Antibiotika in ihre Mastställe. Da überrascht es nicht, dass Schweine, Puten und Hühner von verschiedenen resistenten Erregern förmlich durchseucht sind. Doch während der Konsum von – durchgebratenem – Fleisch unbedenklich ist, lauern in der Gülle noch nicht abschließend erforschte Risiken. Denn mit der Gülle gelangen auch Resistenzen in die Umwelt. Wandern die dann ins Gemüse, in Weißkohl und Porree? Und so weiter zum Menschen?

Im Gegensatz zu plötzlich auftretenden und sich schnell verbreitenden Ausbrüchen wie der Ebola-Epidemie sei „die Antibiotikaresistenz wie ein Autounfall in Zeitlupe, der schon begonnen hat“, sagt Lord Jim O'Neill, Ex-Ökonom von Goldman Sachs und Leiter des britischen Review on Antimicrobial Resistence (RAR), das eine weltweite Lösung des Problems koordinieren soll. Die Perspektive, was geschieht, wenn keine Lösung kommt, beschreibt eine RAR-Studie so: Dann würden im Jahr 2050 so viele Menschen an einst überwunden geglaubten Krankheiten sterben wie an Krebs.

Margaret Chan, Chefin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), spricht von „einer globalen Gesundheitskrise“, die in allen Teilen der Welt „ein gefährliches Ausmaß“ erreiche: „Resistenz gefährdet unsere Fähigkeit, Infektionskrankheiten zu behandeln, und untergräbt zahlreiche medizinische Fortschritte.“ Auf den Agendas der Weltgipfel klettert das Thema nun höher, sei es auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, sei es bei G7- oder G20-Treffen. Immerhin: Das Problem ist erkannt.

Resistenz-Situation, Antibiotika Verbrauch und Opferzahlen

Die gute Nachricht: Die Zahl von resistenten Erregern der Spezies Staphylo-coccus aureus (MRSA) in deutschen Krankenhäusern nimmt ab. Die Positivquote bei getesteten Proben begann bereits ab 2005 zu sinken und fiel zwischen 2010 bis 2013 von 26 auf 17 Prozent. Im europäischen Mittel liegt sie bei 18 Prozent, wobei die Spanne erheblich ist – Island null Prozent, Rumänien 65 Prozent.

Die schlechte Nachricht: Gramnegative multiresistente Erreger (MRE) nehmen zu – bundesweit, europaweit, weltweit. Dazu gehören etwa Klebsiellen (Magen-Darm-Trakt), Escherichia coli (Darm), Acinetobacter (Haut, Schleimhaut) oder Pseudomonas („Pfützenkeim“). Vereinfacht bilden sie Enzyme, die Antibiotika wirkungslos machen können und so das Bakterium schützen. Nach Angaben des Nationalen Referenzzentrums (NRZ) an der Berliner Charité werden lediglich 6 Prozent der im Krankenhaus erworbenen Infektionen durch MRE verursacht. Die Besiedelung der Menschen durch unterschiedliche MRE, die wiederum gegen einzelne oder mehrere Antibiotika resistent sein können, ist weltweit und national alles andere als einheitlich. Das NRZ schätzt, dass etwa 7 Prozent der Bundesbürger mit resistenten Escherichia coli besiedelt sind, womit es den größten MRE-Anteil hat, und spricht von einer „ungebrochenen Wachstumsdynamik“. Der Anteil von Bakterien, die gegen alle vier eingesetzten Antibiotikaklassen resistent sind, beträgt im stationären und ambulanten Bereich zwischen 0,1 und 0,4 Prozent. Das NRZ weist darauf hin, dass „multiresistent nicht gleichbedeutend mit “nicht mehr behandelbar„“ ist. Für MRSA gebe es noch viele wirksame Antibiotika, für MRE weniger. Grundsätzlich lösen resistente Bakterien nicht mehr oder weniger Infektionen als nicht-resistente. Deutschland schneidet beim Antibiotika-Verbrauch im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich ab. Mit 700 bis 800 Tonnen pro Jahr im Humanbereich liegt das Land im unteren Drittel der EU, obwohl 30 Prozent der Verscheibungen weiter „inadäquat (nicht notwendig, zu lange, nicht wirksam)“ seien, so das NRZ. Weit mehr Antibiotika landen in den Mastställen des Landes: Allerdings sank die Menge nach Angaben des GERMAP-2015-Reports von 1706 Tonnen (2011) auf 1238 Tonnen (2014). Hintergrund: Seit 2011 werden die Abgabemengen an Tierärzte erfasst. Im europäischen Vergleich „verfüttert“ Deutschland dennoch zu viele Antibiotika an Nutztiere und liegt im europäischen Vergleich hier im vorderen Drittel. Wie viele Menschen sterben pro Jahr durch resistente Keime? Das NRZ schätzt 6000 in Deutschland, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt 25 000 im Bereich der Europäischen Union und 700 000 weltweit – Tendenz steigend. Bei Schwerkranken ist es häufig schwer zu ermitteln, ob sie an einem resistenten Keim oder ihrer Grunderkrankung gestorben sind. (ww)

Bakterien-Evolution im Zeitraffer

Wird das Erbgut eines Lebewesens an Nachkommen weitergegeben, entstehen Kopierfehler. Die Gene landen selten 1:1 bei der nächsten Generation. Solche – zufälligen – Mutationen können neue Eigenschaften bei einem Lebe-wesen hervorbringen, die vorteilhaft im Überlebenskampf sind.  Die rasante Generationenfolge bei Bakterien erklärt, warum sie sich stets an wechselnde Bedingungen anpassen können. So kann sich etwa das menschliche Darmbakterium Escherichia coli bei optimaler Umgebungstemperatur alle 20 Minuten teilen. Binnen einem halben Tag entstehen so aus einem Bakterium eine Milliarde. Entsprechend hoch ist die Zahl der Mutationen im Erbgut, die auch eine Resistenz gegen ein Antibiotikum oder mehrere Antibiotika hervorbringen können. Das Bakterium wird dann quasi immun gegen den – aus Menschen-Sicht segensreichen – „Kampfstoff“ der modernen Medizin. Das Bakterium gibt sein Resistenzgen nicht nur an die nächste Generation weiter, sondern kann es auch auf Vertreter anderer Bakterienarten übertragen. Insofern verringert die rechtzeitige und vollständige Einnahme eines Antibiotikums bei einer bakteriellen Infektion die Zahl der Mikroben-Generationen und Mutationen – und damit das Risiko einer Antibiotikaresistenz. (ww)

Rundschau abonnieren