Wundermittel mit NebenwirkungenUS-Ärzte empfehlen Aspirin zur Krebsvorsorge

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Acetylsalicylsäure ist der Klassiker unter den Kopfschmerztabletten. In den USA wird der Wirkstoff jetzt auch zur Krebsvorsorge herangezogen.

Acetylsalicylsäure ist der Klassiker unter den Kopfschmerztabletten. In den USA wird der Wirkstoff jetzt auch zur Krebsvorsorge herangezogen.

"Stille Post" nennt Thomas Eschenhagen das, was sich zurzeit in Sachen Aspirin abspielt. Damit meint der Professor für Experimentelle Pharmakologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Wendung, die die Berichterstattung über die bekannteste Kopfschmerz-Pille der Welt genommen hat. Es ist vor allem ein Reizwort, das in der vergangenen Woche eine kleine Medienlawine ausgelöst hat: Krebs. "One Aspirin a day can help keep cancer away" (zu Deutsch: "Eine Aspirin am Tag kann helfen, Krebs fernzuhalten") überschrieb die "Washington Post" am Montag einen der ersten Berichte zum Thema.

Die Aufregung basiert auf einem offiziellen Statement, das am selben Tag die "United States Preventive Task Force" veröffentlicht hatte. Dieses unabhängige Mediziner-Gremium, von dem sich das US-Gesundheitsministerium beraten lässt, empfiehlt darin erstmals gesunden 50- bis 59-Jährigen, täglich vorsorglich eine niedrig dosierte Aspirin (75 bis 100 Milligramm) zu nehmen, falls sie ein um mehr als zehn Prozent erhöhtes Risiko für Herzleiden oder Darmkrebs haben. "Das ist ein ganz neuer Ansatz", sagte Eric Jacobs, Krebsforscher der American Cancer Society, dem US-Sender NBC. "Keine andere Gesundheitsorganisation hat jemals Aspirin zur Krebsvorsorge empfohlen."

Es ist kompliziert

Als "Jahrhundert-Pharmakon" wird der seit Anfang des 20. Jahrhunderts von der Bayer AG produzierte Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) oft bezeichnet, der unter dem Markennamen Aspirin verkauft wird. Die schmerzstillende und fiebersenkende Wirkung des Salicins, das in der Weidenrinde vorkommt, wurde bereits von Hippokrates beschrieben. ASS hemmt zudem Entzündungen, kann Herzinfarkten und womöglich Tumoren vorbeugen. Allerdings hat das Mittel Nebenwirkungen, unter anderem erhöht es das Risiko für gefährliche Magen- und Hirnblutungen. (ma)

Die Meldung, dass eines der am weitesten verbreiteten Medikamente der Welt vor einer der meistgefürchteten Krankheiten schützen kann, klingt elektrisierend. Doch die Geschichte dahinter ist komplizierter - und weniger eindrucksvoll. Das zeigt sich schon daran, dass die US-Zulassungsbehörde FDA erst im Sommer 2014 klargestellt hatte, dass die vorliegenden wissenschaftlichen Daten nicht ausreichen, um gesunden Menschen Aspirin als Schutz vor einem Herzinfarkt zu empfehlen. Von der Darmkrebsvorsorge war zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede - weder bei amerikanischen noch europäischen Zulassungsbehörden.

Dabei vermuten Forscher seit Jahren, dass Acetylsalicylsäure (ASS) nicht nur Kopfschmerzen und Fieber vertreiben, sondern auch Tumore verhindern kann. 2010 lieferte ein Forscherteam um Peter Rothwell von der Universität Oxford im Fachjournal "Lancet" dazu erstmals belastbare Daten. Die Mediziner hatten Gesundheitsdaten von knapp 26 000 Patienten ausgewertet, die im Rahmen mehrerer Studien über viele Jahre hinweg gesammelt worden waren. Sie kamen zu dem Schluss, "dass Aspirin die Sterblichkeit infolge mehrerer Krebsarten verringern kann".

Aspirin wirkt gegen Entzündungen - die Krebs auslösen können

Ähnliche Daten haben auch Forscher um Evelyn Whitlock vom Northwest's Center for Health Research in Portland (US-Bundesstaat Oregon) analysiert, auf deren Arbeiten die aktuelle Empfehlung unter anderem beruht. Whitlock nahm sich zehn Studien vor, die zwischen 1988 und 2014 veröffentlicht wurden. Aus ihren Ergebnissen geht hervor, dass Menschen, die ASS über mehrere Jahre bis Jahrzehnte hinweg einnahmen, zu 40 Prozent seltener an Darmkrebs erkrankten. Eine andere, 2014 im "Science Translational Medicine" publizierte Studie bescheinigte Aspirin-Dauernutzern ein um 30 Prozent gesenktes Risiko. Wie genau ASS die Entstehung von Darmtumoren verhindern könnte, dafür gibt es bislang nur Hypothesen. "ASS blockiert das Enzym Cox-2, das an Entzündungen beteiligt ist", erklärt Susanne Weg-Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienstes am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Zum einen könnte es sein, dass der biochemische Weg, den Cox-2 nimmt, mit der Krebsentstehung zusammenhängt. "Zum anderen könnte auch einfach die Hemmung von Entzündungsbotenstoffen Tumore verhindern", sagt Weg-Remers. Dass chronische Entzündungen im Körper das Risiko für manche Krebsarten erhöhen, gilt heute als sicher. Aber "auch wenn Aspirin tatsächlich das Risiko für Darmkrebs senkt", würde die DKFZ-Expertin eine dauerhafte Einnahme von ASS Gesunden nur in Ausnahmefällen empfehlen. Denn was bei der "Stillen Post" der Medizinberichterstattung oft verloren geht, ist das Kleingedruckte mancher Studien. "Zum Beispiel wird in den genannten Studien nicht erklärt, ob dem gesunkenen Darmkrebs-Risiko ein erhöhtes Risiko, an Magen-Darm-Blutungen oder anderen Krankheiten zu sterben, entgegenstand", sagt Weg-Remers.

Nur bei bestimmten Gencodes wirksam

Zudem zeigten sich die Schutz-Effekte in der Analyse von 2014 nur bei Patienten, die über bestimmte Gencodes verfügten. Magen- und Hirnblutungen sind die gefährlichen Nebenwirkungen, die eine dauerhafte Einnahme von Aspirin mit sich bringen kann. Eine andere ist, dass ASS die Gerinnungsfähigkeit des Blutes verringert - was besonders bei Unfällen oder Operationen gefährlich sein kann. Diese Risiken sind der Grund dafür, warum die meisten Experten die neue Empfehlung kritisch sehen. "Eine Dauermedikation lohnt sich nur für Menschen, deren Darmkrebsrisiko stark erhöht ist", erklärt Mathias Heikenwälder, Professor für "Infektionen und Krebs" am DKFZ. Laut der US-Empfehlung sollte dieses Risiko bei mindestens zehn Prozent liegen. Alle anderen würden sich, mit einer Dauermedikation von ASS eher schaden, weil sich ihr Risiko für eine gefährliche Darmblutung dadurch verdoppelte. Ähnliche Rechnungen werden seit langem in der Herzmedizin angestellt. Hier bekommen nur Patienten mit stark erhöhtem Infarktrisiko eine tägliche Dosis ASS verschrieben. "Es sollte jetzt also nicht jeder in die Apotheke laufen und Aspirin nehmen, um Darmkrebs vorzubeugen", sagt Heikenwälder. Ohne einen Arzt zu befragen, sollte man das Mittel über einen längeren Zeitraum nicht nehmen. Für die meisten seien regelmäßige Darmspiegelungen immer noch der beste Weg der Krebsvorsorge.

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