Kommentar zur WahlDeutschland hat abgerechnet

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Gemessen an den Ergebnissen erscheint eine Jamaika-Koalition sehr wahrscheinlich.

Deutschland hat gewählt – und abgerechnet. Mit einer Kanzlerin, die in einen Wohlfühlwahlkampf ziehen wollte und von der tiefsitzenden Enttäuschung über ihre Flüchtlingspolitik eingeholt wurde. Mit Herausforderer Martin Schulz, der alles gab, aber letztlich den sozialdemokratischen Nerv der Wähler verfehlte. Beide Lager haben so gewaltig an Stimmen verloren, dass die Wahlforscher von einer Verschiebung der „tektonischen Platten“ in der Parteienlandschaft sprechen. Ein Ergebnis, das Strafe und Chance zugleich bedeutet.

Nach Jahrzehnten sitzen erstmals wieder sechs Fraktionen im Parlament. Die beiden Volksparteien sind so weit geschrumpft (auf zusammen nicht einmal 55 Prozent), dass von einer großen Koalition kaum mehr die Rede sein könnte. Doch die ist ohnehin Geschichte. Keine neun Minuten nach Veröffentlichung der ersten Wahl-Prognosen verkündete die SPD-Spitze gestern Abend den Rückzug in die Opposition. Die nun offenbar einzige Koalitions-Option: Schwarz-Gelb-Grün. Als drittstärkste Kraft trumpft, wenig überraschend, die AfD auf.

Erfolg der AfD geht zum Teil auf Konto der GroKo

Dass die Rechtspopulisten durch ein derart weites Tor in den Bundestag einzogen, geht auch auf das Konto der großen Koalition. Die Wahlanalysen weisen einen hohen Anteil von Protestwählern aus, die aus dem Unions-Lager zur AfD zogen. Für das hochemotional diskutierte Flüchtlings-Thema legten die Rechtspopulisten (vermeintlich) einfache Lösungen auf den Tisch, während die Regierungschefin konzeptlos wirkte. Und je weniger Gegenentwürfe die SPD anbot, um so leichter konnte sich die AfD als angeblich einzig wählbare Alternative zu den sogenannten Etablierten profilieren.

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Mit diesem Denkzettel in der Tasche und dem schlechtesten Ergebnis für die Union seit 1949 konnte sich Angela Merkel gestern nur mit sehr gebremster Freude als Siegerin feiern lassen. Ihre vierte Amtszeit könnte eindeutig besser anfangen. Mit wem kann sie überhaupt regieren? FDP-Chef Christian Linder, der die Liberalen aus dem Nichts in wirklich beachtliche Prozent-Bereiche gepusht hat, reißt sich nicht um eine Regierungsbeteiligung. Das Grünen-Spitzenduo konnte erleichtert ein anständiges Wahlergebnis zur Kenntnis nehmen und steht zu Sondierungsgesprächen bereit, pocht aber schon auf Grundbedingungen („Vorfahrt für Klimaschutz!“). Die SPD hat sich erstmal aus dem Staub gemacht. Parteichef Schultz kommentierte sozusagen schon von der Oppositionsbank aus, Schwarz-Gelb-Grün werde schon ans Laufen kommen.

Mit der Aussicht auf energiegeladene Regierungsarbeit ohne Groko-Müdigkeit wäre dieses Bündnis durchaus eine Chance.

Zu viele Differenzen bei einer Jamaika-Koalition

Aber jeder Konsens müsste unter vier Partnern gefunden werden, denn die CSU regiert mit. Angesichts des AfD-Ergebnisses sind bereits Signale aus München auf dem Weg, die Union müsse „die rechte Flanke schließen“. Das dürfte unter Jamaika-Flagge schon beim Thema Flüchtlings-Obergrenze scheitern. Auch bei Energiewende, Bürgerversicherung oder Vermögensteuer liegen die Positionen meilenweit auseinander. Ob in dieser Konstellation bei den drängenden Zukunftsthemen Integration, Bildung, Digitalisierung, Renten und Altersarmut Fortschritte zu erreichen sind, ist fraglich.

Die SPD hat überraschend schnell signalisiert, keine Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. Zu schnell für Angela Merkel. Fast verzweifelt redete sie gestern Abend gegen die Entschlossenheit vom Martin Schulz an. Doch die Sozialdemokraten sehen offenbar ihre Verantwortung eher darin, die stärkste Oppositionsfraktion zu stellen – und damit zu verhindern, dass diese Rolle der AfD zukommt.

Wie ist mit den Rechtspopulisten im Bundestag umzugehen? Mit einer Partei, aus deren Reihen immer wieder Mitglieder mit aufhetzenden, fremdenfeindlichen, gelegentlich sogar antisemitischen Äußerungen provozieren. Und deren Spitzenkandidat gestern schon ankündigte, Angela Merkel zu „jagen“. Aber auch Abgeordneten der AfD stehen die Rechte aller Parlamentarier zu. Der künftige Bundestagspräsident wird ihnen die Grenzen aufzeigen. Es wäre ein gefährliches Signal, eine Lex AfD zu schaffen, wenn es etwa um die Leitung von Ausschüssen geht. Jede Art von Ausgrenzung führt eher zu einer festeren Bindung der Partei-Anhänger. Aus Sicht der Wahlforscher ist auch dies ein Grund, warum die Rechtspopulisten überhaupt so weit kommen konnten.

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