ChronologieAls Deutschland die Grenze öffnete

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flüchtlinge gehen hinter polizeiauto her

Flüchtlinge werden von der Bundespolizei in Bayern geleitet.

Das Bundeskanzleramt ist verwaist, als die wichtigste Entscheidung der jüngeren deutschen Geschichte fällt. Nur im Lagezentrum tun ein paar Mitarbeiter an diesem Freitagabend Dienst, alle Entscheidungsträger sind ausgeflogen. Angela Merkel ist im NRW-Kommunalwahlkampf, ihr Kanzleramtschef Peter Altmaier reist an den Genfer See zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsforum.

Die für die Flüchtlingsfrage wichtigsten Minister sind verhindert oder unpässlich. Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier trifft seine EU-Kollegen in Luxemburg, Innenminister Thomas de Maizìere hütet mit knapp 40 Grad Fieber das Bett. Vielleicht hat es nie zuvor einen Beschluss dieser Bedeutung gegeben, der in Handygesprächen ausgehandelt wurde.

„Wir schaffen das“

Kurz nach 18 Uhr an diesem 4. September 2015 landet die Kanzlerin in Köln. In der "Flora" feiert die NRW-Union 70-jähriges Bestehen mit 500 Gästen. Die Flüchtlingskrise ist allgegenwärtig: Merkel kommt aus Essen: eine Veranstaltung des CDU-Oberbürgermeisterkandidaten. Mehrere Syrer haben sie mit Dankesplakaten begrüßt, weil das Nürnberger Bundesamt für sie zwei Wochen zuvor, am 21. August, das Dublin-Verfahren ausgesetzt hat, weshalb sie nicht in ihr Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden: für mehr als 150 000 Bürgerkriegsflüchtlinge das Signal, in Deutschland willkommen zu sein. Frisch ist auch noch de Maizières Prognose - statt 450 000 würden 800 000 Schutzsuchende erwartet. "Wir", sagt Merkel am 31. August, "schaffen das."

Humanität ist das Gebot der Stunde. Auch wegen vieler Horrornachrichten: Während einer Konferenz Ende August in Wien flüstert Österreichs Kanzler Werner Faymann der Kanzlerin ins Ohr, dass ganz in der Nähe ein Lastwagen mit 71 toten, teils verwesten Flüchtlingen gefunden wurde. Merkel zeigte sich "erschüttert". Am 2. September wurde ein dreijähriger Flüchtlingsjunge tot an den Strand von Bodrum in der Türkei gespült. In Essen ist Merkel brutal daran erinnert worden - eine Frau hat ihr das Bild von Aylan Kurdi zugesteckt.

Auf brennenden Kohlen

Die Kölner Jubiläumsrede der Kanzlerin beginnt etwas verspätet, da Steinmeier aus Luxemburg anruft, wo ihn sein österreichischer Kollege Sebastian Kurz zur Seite genommen hat. Dessen Wiener Ministerium hat eine Depesche aus Budapest erhalten, wonach "beinahe 1000" Flüchtlinge, unzufrieden mit der Art, wie sie in Ungarn herumgeschubst werden, auf der Autobahn Richtung Österreich laufen. Als Faymann deswegen auf Merkels Handy durchklingelt, muss er sich gedulden. "Die Kanzlerin", heißt es, "ist gerade auf der Bühne."

Faymann sitzt auf brennenden Kohlen. Ungarns Premier Viktor Orbán hat einen dringenden Gesprächswunsch. Faymann weiß aus dem Telegramm ans Außenministerium, worum es geht. "Er wollte aber erst mit Orbán sprechen", erzählt einer von Faymanns Beratern, "wenn alles geklärt ist."

Die Rede ist beendet, nun können Kanzlerin und Kanzler reden. Er will den Flüchtlingen nicht die Grenze vor der Nase zumachen und dringt auf eine humanitäre Lösung - analog zur Bevölkerungszahl sollen Österreich und Deutschland die Flüchtlinge im Verhältnis 1:10 aufteilen. "Faymann hat Merkel quasi auf Knien angefleht", heißt es aus dem Kanzleramt. Von Knien wollen sie in Wien nichts wissen, dass die Anfrage dringend gewesen ist, bestreitet niemand.

Historische Entscheidung

Gegen 20.30 Uhr erreicht Merkel Altmaier in Genf und bespricht das weitere Vorgehen. Informiert werden noch Steinmeier und de Maizière, die die zuständigen Experten zusammentrommeln sollen. Nach der Landung in Tegel lässt sich Merkel in ihre Wohnung bringen. Die im Nachhinein so historische Entscheidung fällt dann nicht im Kanzleramt, sondern im Wohnzimmer.

Von Anfang an ist Merkel offen für einen solchen Deal mit Österreich. Wie Faymann befürchtet auch Merkel, dass es Verletzte oder gar Tote geben könnte, wenn Ungarns Sicherheitskräfte versuchen sollten, den Flüchtlingen den Grenzübertritt zu verwehren. Zudem sollte die Unterbringung einiger weiterer Flüchtlinge kein allzu großes Problem darstellen. "Sie musste dennoch bearbeitet werden", erzählt ein österreichischer Regierungsberater rückblickend.

Ohne Seehofers Rückendeckung

An der von Orbáan genannten Größenordnung scheinen bereits Zweifel zu bestehen. Als Faymann den ungarischen Premier gegen 23 Uhr anruft, spricht der bereits von 3000 Flüchtlingen. Merkel will etwa zur selben Uhrzeit die Zustimmung ihres Koalitionspartners einholen und fragt SPD-Chef Sigmar Gabriel, ob der die Aufnahme von 7000 bis 9000 Flüchtlinge politisch mittrage. In einer Notlage. In einem begrenzten Ausnahmefall. Gabriel sagt Ja.

Horst Seehofer geht nicht an sein Handy, als Merkel anruft. "Auf allen Kanälen" habe sie versucht, ihn zu erreichen, heißt es im Kanzleramt, "sogar auf dem Handy seiner Frau."

Altmaier spricht mit Seehofers Staatskanzleichefin Karolina Gernbauer, die ihren Boss aber nicht auftreiben lässt. Bei den "Berlinern" herrscht Unverständnis. Gerätselt wird bis heute, ob Seehofer nur seine Ruhe haben wollte oder absichtlich nicht ans Telefon ging, weil er die Entscheidung nicht mittragen wollte.

Europäische Solidarität

Das Verhältnis von CDU und CSU ist spätestens seit 8 Uhr am 5. September extrem belastet, als Seehofer Merkel zurückruft, die nächtliche Entscheidung einen "Fehler" nennt und die Kanzlerin dies, Seehofer zufolge, "betrübt" zur Kenntnis nimmt. Kurz vor Mitternacht jedenfalls, gut acht Stunden zuvor, hat Merkel schließlich ohne Münchner Rückendeckung Faymann ihre Zustimmung signalisiert. Um 0.42 Uhr läuft die Eilmeldung über Wiener Nachrichtenagenturen, um 1.20 Uhr bestätigt Berlin.

Parallel bereitet Merkel den nächsten Tag vor. Gemäß der deutsch-österreichischen Erklärung, die die Weiterreise der Asylsuchenden "aufgrund der heutigen Notlage" als "Beitrag" zu der "von der EU-Kommission angestrebten fairen Verteilung der Flüchtlinge" bezeichnet, glaubt die Kanzlerin noch an europäische Solidarität. Sie spricht mit ihrem Europaberater Uwe Corsepius, der in den anderen Hauptstädten anfragen soll, wie viele Ungarn-Flüchtlinge sie Deutschland abzunehmen bereit sind. Er ruft seine Gegenüber an, die erst einmal aus allen Wolken fallen. Trotzdem sagt Frankreich schnell zu, 1000 Flüchtlinge aufzunehmen - Belgien nimmt 250, Dänemark 40.

Die geringen Zahlen waren eine Illusion

Um 9 Uhr am Samstag informiert Kanzleramtschef Altmaier aus Genf die 16 Länderregierungen. Sie sind pikiert, nun ausbaden zu müssen, was in der Nacht ohne sie beschlossen worden ist. All diese Absprachen und Zahlen sind zu diesem Zeitpunkt bereits Makulatur. Drei Stunden zuvor, gegen 6 Uhr , hat Österreichs Kanzler Faymann es erneut bei Orbán versucht, weil die Flüchtlingszahlen viel höher sind. Der Ungar meldet sich zunächst nicht. Um 6.45 Uhr räumt er ein, dass 10 000 Menschen auf dem Weg seien.

Aber auch die Zahl erweist sich als Illusion: Allein im Verlauf des Wochenendes kommen am Münchner Hauptbahnhof fast 20 000 Menschen an; die Nachbarstaaten fühlen sich, da ohnehin viele Flüchtlinge unorganisiert weiterreisen und ein Ausnahmefall kaum mehr zu erkennen ist, nicht mehr an ihre Aufnahmezusage gebunden. Merkel ist enttäuscht und sauer.

Das Gefühl, von ungebremster Zuwanderung "überrollt" zu werden, wird sich im Kanzleramt jedoch erst viel später einstellen. Noch in einer Koalitionsrunde und einem Treffen zwischen Merkel und Faymann eine Woche später wird der Beschluss als große Ausnahme diskutiert. "Jeder, der sagt, er habe damals gewusst, wie groß diese Entscheidung wirklich war, lügt", sagt einer von Faymanns Leuten. "Dass sie zum Dammbruch wird", ist auch aus der SPD zu hören, "hat damals niemand geahnt."

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