Deutscher Herbst 1977Wie 44 Tage Deutschland veränderten

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RAF Schleyer

Der Bildausschnitt zeigt den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer unter dem Logo der RAF (Rote Armee Fraktion)

Der Deutsche Herbst vor 40 Jahren war die wohl schwerste Krise der alten Bundesrepublik. Nie vorher und nie nachher sahen sich Staat, Regierung und Gesellschaft so massiv angegriffen. Die Bundesrepublik war noch im August 1977 eine ganz andere als knapp sieben Wochen später. Das Bemühen, diese Tage begreifen zu wollen, hat bis heute nicht aufgehört, denn die Schurken traten an, eine bessere Welt herbeizubomben, und die Helden mussten Menschen opfern, um den Terrorismus zu besiegen. Das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind.

Die Gedankenwelt der Terroristen verankerte sich in einer radikalen Linken, die sich in den 1960er Jahren gebildet hatte, und fand dort eine verhältnismäßig breite Unterstützung. Auf bis zu 2500 Menschen schätzten die Sicherheitsbehörden in den 1980er Jahren das Vorfeld der RAF, nur 15 bis 30 gehörten zum harten Kern. Das Besondere dieser relativ kleinen Gruppe war ihre gesellschaftliche Verankerung: Die meist jungen Männer und Frauen stammten zu einem erheblichen Teil aus Familien der bürgerlichen Mitte, waren gut ausgebildet, studierten, brachten erkennbare Talente mit, wie Ulrike Meinhof, die eine bekannte und geachtete Journalistin war, bevor sie in den Untergrund ging.

Anfang im April 1977

Der Deutsche Herbst nahm seinen Anfang schon im April 1977, als der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Begleiter auf offener Straße in Karlsruhe erschossen wurden. Zwei weitere Anschläge folgten. Am 5. September kidnappte die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in Köln. Ziel der Entführung war es, die gefangenen RAF-Mitglieder im Gefängnis Stuttgart-Stammheim freizupressen.

TATort Schleyer

Blick auf den Tatort der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer

Die Bundesregierung begriff diese Aktion als Frontalangriff. Die Regierung unter Helmut Schmidt legte sich sofort auf die harte Linie fest, den Terroristen nicht nachzugeben, sondern Schleyer zu befreien. So begann der Deutsche Herbst. Ein Spiel auf Zeit und eine schwere Belastungsprobe für die ganze Gesellschaft. 44 bleierne Tage lang. Das Land verstummte gleichsam. Die Radiosender spielten nur noch getragene Musik, keine Schlager, keinen Pop, keine gesungenen Lieder. Die Menschen schauten so intensiv wie selten Nachrichten im Fernsehen, hörten Radio, weil jeder Tag, jede Stunde eine neue Entwicklung bringen konnte. Bonn wurde zur Festung. Überall in der Republik kontrollierte die Polizei an allen Orten den Verkehr. Wer sich irgendwie auffällig verhielt, schaute in die Mündung einer Maschinenpistole. Die Beamten waren nervös, denn sie wussten, die Terroristen schossen sofort.

Die Plakate waren allgegenwärtig

Das ganze Land jagte Terroristen. Helmut Schmidt selbst rief die Bürger in seiner Fernsehansprache am 5. September 1977 dazu auf. Jeder noch so kleine Hinweis helfe. In jedem Postamt, in jedem Rathaus, in jedem Gemeindeschaukasten hing das Fahndungsplakat, das eine hohe Belohnung für Hinweise versprach. Wenn wieder ein Täter gefasst oder ums Leben gekommen war, strich irgendjemand das Bild aus.

Doch Schleyer blieb verschwunden. Jedem war bewusst, dass hinter den Kulissen hektisch verhandelt und verbissen ermittelt wurde. Übernächtigte Politiker traten vor die Kameras und gaben Stellungnahmen ab. Das Verfassungsgericht verhandelte über eine Klage der Familie Schleyer, der Staat müsse ihren Ehemann und Vater befreien. Der Bundestag debattierte über ein Gesetz, das den Kontakt zwischen Anwälten und Terroristen unterbinden konnte. Offenkundig ging der Rechtsstaat, den man doch zu verteidigen antrat, an seine Grenzen und womöglich darüber hinaus: Die alte, eher behäbige und in Sicherheitsfragen aus heutiger Sicht beinahe nachlässige Bundesrepublik wandelte sich rapide. Dass die Freiheit nur zu verteidigen ist, wenn sich die Demokraten gegen die Feinde der Demokratie wehren, war eine der schmerzlichen Erkenntnisse des Herbstes.

Lufthansamaschine entführung

Die befreiten Geiseln treffen am 18.10.1977 mit der Lufthansa-Maschine "Köln" auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt ein.

Entführung der Landshut

Am 13. Oktober 1977 - Schleyer war immer noch verschwunden - entführten palästinensische Terroristen den Lufthansa-Jet Landshut. 86 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder waren an Bord. Ein Nervenkrieg vor laufender Kamera begann. Kanzler Schmidt blieb bei seiner Linie: kein Nachgeben. Das Risiko einer großen Katastrophe schwebte über allem. Die Regierung spielte auf Zeit, um Schleyer zu finden und die GSG 9 zum Einsatz zu bringen, von der bis dahin kaum jemand wusste. In den frühen Morgenstunden des 18. Oktober 1977 gelang die Befreiung. Noch in der gleichen Nacht brachte sich die Führungsspitze der RAF im Stuttgarter Gefängnis um. Zwei Terroristen erschossen daraufhin Schleyer.

Schmidt hatte dem Terrorismus die entscheidende Niederlage zugefügt. Doch der Preis für ihn persönlich und für das ganze Land war hoch. Die RAF des Sommers 1977 zerstritt sich über ihren Misserfolg, zerfiel und löste sich in Teilen auf. Eine neue Generation von Tätern übernahm. Die Fernwirkungen des Deutschen Herbstes ziehen sich bis in die Gegenwart.

Innenpolitisch eskalierte sofort die Suche nach vermeintlichen und echten Unterstützern der RAF, nach Sympathisanten und Helfern. Namhafte Intellektuelle wie Heinrich Böll oder Luise Rinser waren immer wieder Ziel von Angriffen vor allem aus den Reihen der CDU. Ein sachlicher Streit über Gründe und Folgen des Terrorismus war unmöglich, die politische Debatte vergiftet.

Desaster für die Linke

Der Herbst 1977 war ein Desaster für die politische Linke, die bis dahin Sympathien bis ins liberale Bürgertum genoss. Eine Partei links von der SPD unter dem Markenzeichen Sozialismus oder Kommunismus war seitdem nicht mehr denkbar. Nur unter dem Etikett der ökologischen Politik, der Anti-Atombewegung fand sich so etwas wie eine linke Partei zusammen, die Grünen. Dass die Streitereien um den Nato-Doppelbeschluss und die Atomkraft in Deutschland so bösartig, grundsätzlich und fundamentalistisch gerieten, hat womöglich damit zu tun.

Ganz enorm war die Entwicklung der Bundesrepublik auf dem Feld der inneren Sicherheit. Bundeskriminalamt, Grenzschutz, Justiz und Polizei modernisierten sich rasch und sehr effektiv. Rasterfahndung, Ringfahndung, Schleierfahndung, Computereinsatz, Anti-Terror-Einheiten entstanden erst durch den Terrorismus oder wurden als Mittel der Terrorbekämpfung ausgebaut. Die anfangs überforderten Sicherheitsbehörden professionalisierten und modernisierten sich.

Unverstanden blieb der Terrorismus auch von jenen, die nach 1968 einen anderen Weg eingeschlagen hatten, aber sahen, welche Schlüsse ihre Altersgenossen aus den linken, theoretischen Debatten an den Universitäten zogen. Die Bücher über diese Zeit füllen Bibliotheken. Das Drama der gebrochenen Helden, die wie Helmut Schmidt einen guten Bekannten in den Tod schicken mussten, weil es die politische Situation gebot, faszinierte die Drehbuchautoren und Theatermacher. Die beklemmende Welt in Stammheim, in den konspirativen Wohnungen, bei Überfällen und Attentaten, die brutale Gruppendynamik der Mörder mit den hehren Zielen forderte Künstler heraus. Wirklich zu verstehen war der Weg der Terroristen indes nicht. Wie wurden aus den Idealen, die man einst selbst teilte, ganz reale Tote? Wie konnte es passieren, dass die Anklage der Elterngeneration, den Nazis nicht widerstanden zu haben, zu Methoden und Taten führten, die moralisch auf gleicher Höhe lagen wie die Taten der Nazis?

Erst 1998 löste sich die RAF endgültig auf. In dem Papier, das die Gruppe dazu veröffentlichte, fand sich kein Wort des Bedauerns für die Opfer, auch nicht für jene, die als Unbeteiligte ins Fadenkreuz gerieten. Auch die Mörder der RAF sind vielfach nicht ermittelt. Die Täter schweigen bis heute.

Die RAF beging gezielte Anschläge. Heutige Terroristen versuchen, möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen. Sie schlagen im Alltag zu, auf der Straße, dem Weihnachtsmarkt, im Kaufhaus. Das lässt diesen Terror für die Gesellschaft sehr viel bedrohlicher erscheinen, denn er kann jeden treffen. Die Gefahr für das Gemeinwesen war 1977 indes deutlich größer. Die Täter von damals und die Täter von heute gleichen sich in ihrer ideologischen Verblendung, ihrer Gewaltbereitschaft und Menschenverachtung. Die Antwort, die die Gesellschaft geben muss, ist die gleiche: Der Staat darf den Feinden der Demokratie nicht nachgeben, er muss die Freiheit aller schützen. Auch wenn der Preis dafür das Leben von Menschen ist.

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