Nestbeschmutzer?Wie es sich anfühlt, ein Familienrebell zu sein

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Allein unter anderen: Wer in seiner Familie komplett aus der Rolle fällt, wird nicht selten zum „schwarzen Schaf“ erklärt.

Die einzige „brotlose Künstlerin“ in einer Familie, die aus Ärzten und Anwälten besteht? Der einzige Kfz-Mechaniker in einer Musikerfamilie? Die erste Studentin in einer Arbeiterfamilie, die sich – da sind sich alle anderen Familienmitglieder einig – als etwas Besseres fühlt? Der einzige Großstädter und Langzeit-Single, der bei den verheirateten Geschwistern, die auf dem Dorf neben den Eltern wohnen, ewig als Sündenbock herhalten muss?

Die Liste ließe sich ewig fortführen. Wer vollkommen anders ist als alle anderen in seiner Familie, hat es nicht unbedingt leicht. Gerade wenn die Eltern das eigene Leben nicht akzeptieren wollen. Da läuft so mancher Gefahr, sich den Vorstellungen der Familie zu beugen. Schließlich sind wir von klein auf darauf gepolt, um die Anerkennung unserer Eltern zu buhlen.

Wir machen unsere ersten Schritte und bekommen Applaus

Wir machen unsere ersten Schritte und bekommen Applaus von unserer Familie, wir schwimmen unsere ersten Meter und werden mit freudestrahlenden Blicken unserer Eltern belohnt, wir bringen gute Noten nach Hause und bekommen ein Eis. Aber dann entscheiden wir uns nach dem Schulabschluss gegen das Medizin-Studium und für eine Ausbildung zum Tanzlehrer. Und plötzlich ist aller Applaus verhallt.

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Ein schwieriger Weg: sich alleine gegen die gesamte Familie durchzusetzen.

Die Sozialpädagogin Julia Riebeling empfindet sich selbst als „Familienrebell“, der die eigene „Individualität“ früh auslebte, „in einem gutbürgerlichen Elternhaus, in dem Traditionen an erster Stelle standen“. Sie hat ihre Geschichte kürzlich zum Thema eines Ratgebers gemacht. Titel: „Nestbeschmutzer. Sei ein Familienrebell“. „Dieses Buch ist ein Enfant terrible und es ist stolz darauf“, schreibt Riebeling, die in Hamburg als Coach arbeitet. Dabei geht Riebeling immer von dem Fall aus, dass die Eltern den eigenen Weg nicht akzeptieren wollen und hat genügend Fallbeispiele zur Hand: 

„Ihre Eltern schämen sich dafür, dass Sie noch in einer WG wohnen und Single sind“

„Ihre Eltern schämen sich, über Ihr wahres Leben in der Öffentlichkeit zu sprechen, und erzählen stattdessen, dass sie BWL studieren, bereits verlobt sind (natürlich mit dem anderen Geschlecht) und auch schon Kinder geplant sind. In Wahrheit leben Sie aber als Single in einer Studenten-WG.“ Oder: Auf einer Familienfeier der Eltern, ist ein Freund der Familie – im Gegensatz zu den Eltern – begeistert von den eigenen beruflichen Visionen. „Plötzlich schaltet sich Ihre Mutter in das Gespräch ein und verkündet vor der Gästerunde, dass sie in einer viel zu teuren Wohnung leben, ihres Wissens Schulden bei der Bank haben und Sie Ihre Diplomarbeit ja gerade erst abgegeben haben.“

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Bezeichnet sich selbst als „Familien-Rebellin“: Autorin und Pädagogin Julia Riebeling.

„Kinder tun Dinge, die den Eltern missfallen“

Das sind zwar krasse Beispiele, aber in abgeschwächter Form wird fast jeder schon einmal mit der Enttäuschung der Eltern konfrontiert worden sein, so die Sozialpädagogin, denn: „Kinder tun schlichtweg Dinge, die den Vorstellungen der Eltern und der Familie missfallen.“ Es sei denn, sie würden „Abziehbilder“ ihrer Eltern, was seltener vorkommen dürfte.

Riebeling appelliert vehement dafür, sich den Eltern zuliebe nicht zu verbiegen und sich nicht für jeden Weg, den man anders geht, zu rechtfertigen: Man müsse sich wegbewegen „von an Bedingungen geknüpfte Liebe – hin zu bedingungsloser Selbstliebe“ und wegkommen von „der Abhängigkeit der Anerkennung durch ihre Familie – hin zu einem Leben als sich selbst liebender und respektierender Self Love Rebel.“ Ein selbstliebender Rebell? Das hört sich nach jemandem an, der man gerne wäre. Es fällt allerdings umso schwerer, dieses Credo umzusetzen, räumt Riebeling ein, „wenn sich Ihre Mutter Ihnen gegenüber wie ein eisgekühlter Gefrierschrank verhält.“

„Alle unsere anderen Kinder haben das viel schneller geschafft als Du“

Dabei deckt Riebleing Mechanismen auf, die oft in Familien wirken. Einer davon ist das Status-Senken: „Stellen Sie sich vor, Sie besuchen ihre Eltern und erzählen, wie gut es beruflich läuft, dass Sie immer mehr Geld verdienen und endlich unabhängig sind. Ihr Vater schaut sie an und sagt ihnen, dass dies ja auch lange genug gedauert habe. Bei allen anderen seiner Kinder sei es viel schneller gegangen.“ Der Zuspruch, den wir uns von unseren Eltern erhofft hatten, bleibt aus.

„Liebesentzug ist eine klassische Methode, um seine Kinder zu manipulieren“

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„Du warst schon immer anders“: Ja, na und? Wer glücklich werden will, muss die eigenen Träume leben – nicht die der Eltern.

Auch der „Liebesentzug“ sei eine klassische Methode, um Kinder in eine bestimmte Richtung zu lenken. Riebelings Beispiel ist die Mutter, die ihre Tochter nach drei Tagen Funkstille am Telefon „so unterkühlt“ begrüßt,  dass die Tochter sofort damit beginnt, sich dafür zu entschuldigen, dass sie sich erst jetzt meldet und eine minutiöse Berichterstattung über ihr Leben in den letzten 72 Stunden liefert.

Nur wenn die Tochter jeden Tag anruft, wird sie geliebt

Als die Mutter immer noch abweisend reagiert, fragt die Tochter nach, wie es ihr geht. „Ihre Mutter gibt ihnen zu verstehen, dass sie erstaunt darüber ist, dass sie das überhaupt interessiert, denn schließlich haben sie sich seit drei Tagen nicht mit ihr in Verbindung gesetzt.“ Schließlich endet das Gespräch damit, dass die Familienabtrünnige sich schuldig fühlt und gelobt, wieder täglich anzurufen. Die Mutter geriert sich hier als Opfer, ist aber eigentlich Täterin, wie Riebeling deutlich macht: Nur wenn die Tochter jeden Tag anruft, wird sie geliebt. Weniger führt zu Liebesentzug und Missachtung.

Riebeling predigt immer wieder, sich abzugrenzen und sich nicht abhängig machen von der Anerkennung der Eltern, deren Welt- und Rollenbild man so oder so nicht entspricht. Dabei bietet die Pädagogin regelmäßig konkrete Lösungsvorschläge an, wie man in bestimmten Situationen reagieren kann.  Wenn man von der Mutter zum Beispiel ermahnt werde, nicht so laut zu lachen, weil das „proletarisch“ wirke, empfiehlt Riebeling: „Anstatt peinlich berührt und mit glühenden Wangen vor ihr zu sitzen, loben sie Ihre Mutter für ihre gute Beobachtungsgabe und lachen einfach weiter.“

„Verabschieden Sie sich vom Wunsch zu gefallen"

Dabei impliziert jeder Lösungsvorschlag der Sozialpädagogin, den sogenannten „Will to please“ aufzugeben: „Verabschieden Sie sich vom Wunsch, zu gefallen.“ Auch wenn das schwer fällt. Schließlich will man trotzdem von der eigenen Familie geliebt werden und das funktioniert am besten, so hat es der vermeintliche „Nestbeschmutzer“ gelernt, „indem Sie alles mit sich machen lassen: keine Widerworte finden und niemals aus der Rolle fallen, die ihre Familie ihnen zugedacht hat.“

„Liebe ist niemals an Bedingungen geknüpft“

Dabei vergessen wir eines: „Liebe hängt niemals mit Anstrengung zusammen. Liebe ist unvoreingenommen und  findet zu Ihnen, ohne jemals an Bedingungen geknüpft zu sein.“ Wer lieber Tanzlehrer wird, anstatt in die Fußstapfen der Ärzte-Eltern zu treten, sollte sich trauen, seine Visionen wahrzumachen. Ganz unabhängig davon, ob Mama und Papa das gefällt oder eben nicht. Wer das gegen alle Widerstände, auch aus dem engsten Umfeld, geschafft hat, der wird seinen Weg so oder so gehen,  egal wie viele Hindernisse er sonst noch überwinden muss. Wer glücklich werden will, sollte die eigenen Träume leben – nicht die der Eltern.

Julia Riebeling: Nestbeschmutzer. Sei ein Familienrebell. Scoventa, 220 Seiten, 19,95 Euro.

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