OrthorexieWenn gesundes Essen zum Wahn wird

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Gegen den Apfel hat die Schokolade keine Chance - und zwar nie: Menschen mit Orthorexie sind besessen von gesundem Essen.

Gegen den Apfel hat die Schokolade keine Chance - und zwar nie: Menschen mit Orthorexie sind besessen von gesundem Essen.

Kein Fleisch, keine tierischen Produkte, keine Kohlenhydrate, kein Zucker, kaum Salz, Gemüse und Obst nur aus der Region: Wer sich solch einen Ernährungsplan auferlegt hat, für den ist eine Mahlzeit wohl relativ anstrengend. „Menschen mit Orthorexie sind fixiert auf ihre persönliche Vorstellung von „gesundem“ Essen, oft fast besessen“, erklärt Professor Helmut Schatz, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, der Lehre von den Hormonen und vom Stoffwechsel.

Gesundes Essen als Religionsersatz

Schatz hat sich mit dem Thema eingehend beschäftigt und beschreibt Orthorexie als „eine Essbesonderheit, bis hin zu einer Art Essstörung“, bei der es sich aber noch  "nicht um einen etablierten Krankheitsbegriff“ handele. Für die von Orthorexie Betroffenen kann  „das richtige Essen“ zum Religionsersatz werden: Sie teilen dann Lebensmittel beispielsweise in „Gut“ und „Böse“ ein und fühlten sich „Pommes- oder Fertigpizza-Essern“ überlegen. „Problematisch wird es, wenn sie andere missionieren wollen“, so Endokrinologe Schatz.

Orthorexie kann aus harmlosen Diäten entstehen

Von der ähnlich klingenden Anorexie (Magersucht) oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) unterscheidet sich das Phänomen jedoch. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung verweist auf eine Mitteilung aus dem Jahr 2004: „Während sich anorektische Patienten auf die Quantität des Essens konzentrieren, steht bei Orthorektikern die Qualität des Essens im Vordergrund.“ Das Spektrum der „nicht richtigen“ Lebensmittel sei dabei individuell unterschiedlich. Orthorexie kann sich den Ernährungsexperten zufolge aus „harmlosen Intitiativen zur Änderung von Lebens- und Essgewohnheiten“ entwickeln. Die Beschäftigung mit „gesundem“ Essen und die krankhafte Sorge darum rücke schließlich immer stärker in den Mittelpunkt.

Kein Platz mehr für Genuss

„Krankhaftes Gesundessen“, nennen Experten das auch: Der Psychiater Professor Johann F. Kinzl hat mit einigen Kollegen in der „Ernährungsumschau“ bereits 2005 auf typische Charakteristika der Orthorexie aufmerksam gemacht. Demnach wird das Spektrum der gesunden – und damit erlaubten – Lebensmittel immer stärker eingegrenzt und umfasst schließlich nur wenige Lebensmittelgruppen, wie Obst und Gemüse. Genuss hat in diesem rigiden System keinen Platz mehr: Einstige Lieblingsspeisen werden gestrichen, „gesund oder ungesund?“ wird zum alles entscheidenden Kriterium, das die Gedankenwelt und einen penibel geplanten Speiseplan bestimmt. Wer gegen seine selbst auferlegten strikten Regeln verstößt, wird von einem schlechten Gewissen verfolgt, fühlt sich schuldig.

Im schlimmsten Fall folgt die soziale Isolierung

Bislang ist nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie ein Prozent der deutschen Bevölkerung von dem Phänomen betroffen. Der Begriff Orthorexie, der aus dem Griechischen stammt, bedeutet "richtiger Appetit" und wurde Schatz zufolge von dem amerikanischen Arzt Steven Bratman 1997 geprägt. Der US-Forscher habe jahrelang an sich und seinen Patienten verschiedene Diäten ausgetestet: Bei allen Beteiligten, auch bei sich selbst, habe Bratman schließlich einen krankhaften Umgang mit Essen beobachtet, bei dem Ideologien eine große Rolle spielten.

Im Extremfall soziale Isolierung

Ernsthafte Gesundheitsschäden sind Experten zufolge bei Menschen mit Orthorexie in der Regel zwar nicht zu erwarten. Allerdings: Im schlimmsten Fall nehme das Essverhalten zwanghafte Züge an und bestimme den kompletten Tagesablauf, so Endokrinologe Schatz. Bei manchen führe die zur Ideologie erhobene 'einzig wahre Ernährungsweise' gar zu einer vollkommenen sozialen Isolierung. Denn Restaurants, Kantinen, oder die Kochkünste von Freunden könnten den Ansprüchen der Betroffenen schließlich nicht mehr gerecht werden.

Die Auswirkungen für das Umfeld von Orthorektikern beschreibt auch eine Nutzerin mit dem Pseudonym Elfriede in einem Blog-Eintrag auf den Seiten Gesellschaft für Endokrinologie: „Wir haben inzwischen mehrere Bekannte, mit denen wir nicht mehr essen gehen, nicht zuhause und nicht ins Restaurant. Das sind interessante Leute [...]. Aber sie verderben den Genuss-Essern mit ihrer demonstrativen, persönlichen Essideologie jeden Spaß am Essen. Eine Bekannte isst zum Beispiel keine Kohlenhydrate und kein Fett und sitzt ewig vor kreativen Speisekarten, bis sie dann als Vorspeise einen kleinen Salat und als Hauptgang den Gemüsegrillteller aber ohne Ziegenkäse bestellt. Sie beschäftigt sich selbst und uns und gegebenenfalls das Restaurant ständig mit ihren Theorien.“

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