Bestattungen ohne AngehörigeGanz allein zur letzten Ruhe

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„Natürlich fragt man sich, was ist da nicht in Ordnung gewesen?“ Pfarrer Mathias Bonhoeffer erteilt den Segen für den Verstorbenen.

„Natürlich fragt man sich, was ist da nicht in Ordnung gewesen?“ Pfarrer Mathias Bonhoeffer erteilt den Segen für den Verstorbenen.

Köln – Die Totenglocke läutet drei Mal, bevor der kleine Elektromotor zu surren beginnt. Die sterblichen Überreste von Helmut Zeidler ruhen in einer 30 Zentimeter hohen Kunststoffurne, hinten auf dem mit Kunstrasen ausgelegten Friedhofsmobil. Es wäre reichlich Platz für Blumen und Gebinde, aber es sind keine da, nicht eine einzelne Nelke. Auf der Ladefläche liegt ein Metallhebel, mit dessen Hilfe das Plastikgefäß im Boden versenkt werden wird. Ein Mitarbeiter des Südfriedhofs führt den Trauerzug an. Aber Trauernde sind nicht da. Pfarrer Mathias Bonhoeffer schreitet einsam hinter der Urne zum Gräberfeld.

Ein Mensch stirbt, und niemand ist da, den das kümmert. In Köln kommt das pro Jahr 600 Mal vor. Das Ordnungsamt verordnet dann die „Bestattung von Amts wegen“. Bis 2008 wurden die Verstorbenen ohne Angehörige auf einer Wiese des Nordfriedhofs beigesetzt. Ohne Namen, ohne Erinnerung. Seit sechs Jahren gibt es Gräberfelder auf dem Südfriedhof in Zollstock und dem Deutz-Poller Friedhof. Auf Stelen sind die Namen der Toten aufgereiht, dicht an dicht. „Klingelschilder“, sagen manche.

Auf dem Südfriedhof führt der Weg zur Flur 74. Es geht vorbei an üppig gestalteten Familienfeldern und dem Mahnmal für alle Toten, auf dem steht: „Es ist vollbracht“. Bonhoeffer hält die Hände gefaltet auf dem Weg zum Grab. „U.a.H.“ steht auf dem Zettel, den der Pfarrer zugeschickt bekommen hat. „Urne ab Halle“ heißt das. „Kommt leider immer häufiger vor“, sagt er und dass er als Pfarrer keine Möglichkeit habe, sich diesem Menschen noch anzunähern. Wer war er?

Helmut Zeidler wurde am 16. Juni 1940 in Wolfenbüttel geboren. Er starb am 14. September, in einem Hospiz in Porz, so viel ist klar. Aber was zwischen diesen beiden Daten lag, kann niemand sagen. Zumindest ist keiner da, der es könnte. Zeidler ist Nummer 493 in der Liste der einsamen Toten des Jahres.

Rosa Maria Wißmann ist die Verwalterin dieser Liste. Seit 2011 kümmert sie sich im Bestattungshaus „Leo Kuckelkorn“ um Bestattungen ohne Begleitung. Die Stadt schreibt den Auftrag alle zwei Jahre aus. „Wir reden nicht von Armenbeerdigungen“, sagt sie, es gehe quer durch alle Schichten. „Vor zwei Jahren haben wir einen Hochschullehrer beigesetzt.“ Auf ihrem elektronischen Kalender leuchten viele grüne Felder: Bestattungstermine ohne Anhang. Kalkuliert wird jeweils nur eine halbe Stunde. Ohne Angehörige geht es schneller. „Es ist schon sehr traurig“, sagt Wißmann.

Zehn Minuten dauert der Weg von der Trauerhalle zum Gräberfeld auf dem Südfriedhof. Es weht ein kalter Wind an diesem Tag, die beiden städtischen Mitarbeiter tragen den Schal eng um den Hals. Bonhoeffer fährt normalerweise im Friedhofswagen mit, aber manchmal kommt dann doch ein Nachbar oder ein Bekannter vorbei, der von der Beisetzung in der Zeitung erfahren hat. „Dann sprechen wir kurz.“ Meist falle ihm eine passende Bibelstelle ein. Nur wenn bei dem Verstorbenen eine Konfession eingetragen ist, wird ein Pfarrer zur Beisetzung bestellt, ansonsten wird die Urne von den städtischen Mitarbeitern beigesetzt. „Ohne alles“, heißt das.

Bonhoeffer ist Pfarrer der evangelischen Kartäuserkirche. Als er an der Grabstelle ankommt, schaut er auf die umliegenden Gräber. Die Erde ist noch frisch. Helmut Zeidler ist 74 Jahre alt geworden und hat „Im Dau“ in der Südstadt gelebt. „Sterbefall Zeidler“, stand auf der Benachrichtigung vom Ordnungsamt, Zeichen 322.

In den Unterlagen im Bestattungshaus findet sich auch eine Kopie des Personalausweises, der Verstorbene ist darauf mit langen, ergrauten Haaren zu sehen. Die Augen sehen freundlich aus. Ehestand: geschieden. „Er war zuletzt im Hospiz, aber dort noch nicht offiziell gemeldet“, sagt Wißmann, „das heißt, dass es zuletzt nicht allzu lange gedauert hat.“ Einsam gestorben wird überall: in Heimen, in Hospizen, aber auch in der eigenen Wohnung, tagelang unbemerkt von den Nachbarn. Oder einsam unter einer Brücke, übrig geblieben. Wißmann sagt, das sei für sie das Schlimmste.

Mit einem dumpfen Geräusch verschwindet die rote Urne im Boden. „Herr, hab ich Gnade vor Dir gefunden, so mach mir doch ein Zeichen“, spricht Bonhoeffer, „dass Du es bist, der mit mir redet.“ Das Vaterunser gehöre auch immer dazu, sagt er, aber natürlich bleibe so eine Trauerfeier für ihn abstrakt. „Worüber soll ich klagen? Über die Gesellschaft? Die Familie, die fehlt?“ Er könne traurig sein über die Einsamkeit, aber nicht über das Sterben. „Vielleicht wollte er auch gehen. Ich weiß das alles nicht.“

2100 Euro kostet eine solche Bestattung die Stadt. Auch der einsamste Tod hat seinen Preis. „Wenn jemand in seinem Letzten Willen verfügt hat, dass er eine Erdbestattung will, machen wir das möglich“, sagt Ursula Feld vom Ordnungsamt. Mit fünf Mitarbeitern versucht sie, Angehörige von Verstorbenen zu finden. Das kann dauern, etwa wenn Heiratsurkunden vom Landesarchiv angefordert werden müssen.

„Wenn es Angehörige gibt, finden wir die“

Und wie so häufig geht es ums Geld. Keinen Kontakt mehr zum Toten gehabt zu haben, entbindet nicht von der Pflicht zur Bestattung (siehe Infokasten). Häufig muss die Stadt einspringen. „Wir versuchen, Hintergründe zu erforschen“, sagt Feld. Gibt es Bezugspersonen? Kennt ein Nachbar jemand? „Wenn es Angehörige gibt, finden wir die auch.“ In einem Drittel der 600 Fälle ist am Ende niemand da. Häufig wird aber über die Kosten der Bestattung gestritten. „Wer sich nicht um die Leiche kümmert, hat sich auch nicht um den Menschen gekümmert“, sagt Bonhoeffer. Manchmal haben Angehörige aber gute Gründe gehabt, den Kontakt abzubrechen. Einmal im Monat werden die Namen der „Unbedachten“ in einer Trauerfeier in der Antoniterkirche oder in St. Aposteln verlesen.

„Was uns köstlich erscheint am Leben, ist doch nur vergebliche Mühe“, spricht der Pfarrer am Grab, „denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ Psalm 90. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Nur wenige Griffe zur Schüppe sind nötig, um die Urne von Helmut Zeidler mit Erde zu bedecken. „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir.“ Natürlich fragt man sich, „was da nicht in Ordnung gewesen ist“, sagt Bonhoeffer auf dem Weg zurück zur Trauerhalle. Aber auch er kenne bei 3000 Gemeindemitgliedern pro Pfarrer nicht jedes seiner Schäfchen. „Auch wir müssen Kranke und Einsame suchen.“

In der kleinen Bedienstetenkammer der Trauerhalle streift Bonhoeffer den Talar ab und verstaut ihn mit dem Beffchen im Rucksack. „Stein“ steht auf dem Schild, das auf die nächste Beisetzung verweist. Um 12 Uhr. Vor der Tür stehen Trauernde in kleinen Gruppen zusammen. Eine Frau wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.

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