BürgerwissenschaftenKöln in den 50er Jahren

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Erlebte Geschichte: Die erste Fibel, Klassenfotos und Tornister gehören zu mitgebrachten Studienobjekten.

Erlebte Geschichte: Die erste Fibel, Klassenfotos und Tornister gehören zu mitgebrachten Studienobjekten.

Köln – Hochzeitskleider aus Fallschirmseide, Burda-Hefte mit Schnittmuster, der Neubeginn jüdischen Lebens nach dem Holocaust, das Schulleben in überfüllten Klassen, getrennt für Mädchen und Jungen, neue Architektur wie Gürzenich und Blau-Gold-Haus als Beispiele des Wiederaufbaus: Seniorinnen und Senioren packen aus beim Brainstorming im Dienst der Bürgerwissenschaft.

In der Universität sprudeln die Erinnerungen an die 50er Jahre nur so, und auf den Seminartischen stapeln sich mitgebrachte alte Fotos, die erste Fibel, Tornister mit viel Patina und andere Fundstücke aus dem privaten Fundus.

Spurensuche in Workshops an der Universität

Erlebte Geschichte(n) und Material stellten die Teilnehmer zur Erforschung der 50er Jahre in Köln zur Verfügung, sammelten, recherchierten, analysierten Zusammenhänge. Sie machten sich in mehreren Workshops an der Universität Anfang dieser Woche auf die Spurensuche. Der Tanzkurs bei „Schulerecki“ mit Petticoat aus dem Modehaus Sauer, die erste Rock'n'Roll-Party mit Käse-Igeln, Toast Hawaii und Cocktailkirsche, moderne Architektur von Riphahn wie auf der Hahnenstraße: Solche Puzzleteile fügten sich an zwei Tagen zu einem tieferen Einblick in die Ära von Wirtschaftswunder und Wiederaufbau in Köln, dem „größten Trümmerhaufen der Welt“, wie Generalplaner Rudolf Schwarz die stark zerstörte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg nannte.

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Rund 60 Teilnehmer der Veranstaltung „Köln in den 50er Jahren“ begrüßte die Geschäftsführerin der Koordinierungsstelle für das Gasthörer- und Seniorenstudium an der Kölner Uni, Dr. Anne Löhr. Sie hatte mit der Projektgruppe „Citizen Science“ zum Projekt eingeladen. Citizen Science, Bürgerwissenschaften, sind seit einigen Jahren im Trend. Konzept ist es, „Bürger aktiv in den Forschungsprozess einzubeziehen, ein Brücke zwischen Bürgern und Forschung zu schlagen“, so Anne Löhr.

„KölnErforschen“

„KölnErforschen“ ist Teil des Gasthörer- und Seniorenstudiums. Die Teilnehmer befassten sich in Workshops mit Aspekten wie Mode, der Wiederentstehung jüdischer Gemeinden wie am Rathenauplatz, Architektur und Stadtentwicklung. Andere widmeten sich dem Feld „Essen und Trinken“ und analysierten die Entwicklung von Tante-Emma-Läden zu ersten Selbstbedienungsläden.

Eine Gruppe von Senioren , darunter der Projektgruppenleiter Wilfried Hüsch von „Köln Erforschen“, die das Interesse an der Stadtgeschichte miteinander verbindet, führte seit 2007 drei große Projekte dieser Art in eigener Regie an der Uni durch, mit Begleitung von Wissenschaftlern der Hochschule.

Citizen Science-Projekte

Bundesweit gibt es rund 90 Citizen Science-Projekte. Dazu zählt zum Beispiel das Zählen von Feuersalamandern als Datenerhebung durch Wanderer ebenso wie das Erstellen von Migränetagebüchern. An der Kölner Alma mater arbeiten drei aktive Gruppen: „Jeder darf mitforschen, aber nicht zum Zweck einer beruflichen Tätigkeit“, so Löhr. Die Teilnehmer der 50er-Jahre-Workshops begleitete Uni-Wissenschaftlerin Dr. Dorothea Wiktorin vom Geographischen Institut, Expertin für die Zeit des Wiederaufbaus. In den 50ern kam auch Verdrängtes hoch, erläuterte sie, neben dem Streben, das Wirtschaftswunder weiter anzutreiben, gehörte vor allem die Integration von Flüchtlingen, Heimkehrern, Vertriebenen zu den größten Leistungen.

Lebenslanges Lernen

Die erarbeiteten Erkenntnisse aus den Workshops sollen später in einem Bericht veröffentlicht werden, sagt Projektleiter Hüsch. Nach seiner Pensionierung fragte sich der ehemalige Lehrer wie viele, die vom Beruf ins Renterleben wechseln, „was man Sinnvolles anderes machen kann. Das Forschen hat mich interessiert, konstruktiv sein.“ Und das sei „durchaus anstrengend“, räumt der 70-Jährige Seniorenstudent ein. Aber „die grauen Zellen werden aktiviert, das ist Stress im positiven Sinne“.

Einige ältere Semester aus der Forschergruppe studieren an der Uni als Gasthörer Fächer wie Politik oder Philosophie, andere suchen sich aus den unterschiedlichsten Fakultäten Gesprächskreise heraus. Der Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist längst auch von der Alterns-Wissenschaft widerlegt. Hüsch: „Lebenslanges Lernen ist gefragt.“

Gasthörer- und Seniorenstudium der Uni Köln

Es studieren insgesamt 1085 Gasthörer an der Universität zu Köln, davon sind 550 Männer und 392 Frauen älter als 50 Jahre. Der älteste Gasthörer ist 88, im Durchschnitt beträgt das Alter 67,7 Jahre. Im Gasthörer- und Seniorenstudium der Uni können die Teilnehmer eine Fülle von Lehrveranstaltungen aus dem regulären aller Fakultäten und den sogenannten Arbeitskreisen kennenlernen, die von der Koordinierungsstelle Wissenschaft und Öffentlichkeit exklusiv für die Senioren angeboten werden.

Das Lehrangebot ist im Rahmen des Gasthörer- und Seniorenstudiums bis auf wenige Ausnahmen öffentlich zugänglich, wenn es nicht auf einen Beruf hin ausgerichtet ist – auch ohne Abi oder vorheriges Studium. Der Gasthörerbeitrag beträgt 100 Euro pro Semester.

Außerdem ist es möglich, sich aktiv am Forschungsprozess zu beteiligen, in so genannten Citizen Science-Projekten. Sie bildeten sich seit 1997. Waren eigene Forschungsaktivitäten von Senioren anfangs nur eine interessante Randerscheinung, liegen solche aktiven Beteiligungsprozesse von Bürgern an der Wissenschaft heute im Trend, unterstreicht Uni-Rektor Professor Axel Freimuth, und wird angeregt und gefördert.

Die Koordinierungsstelle berät Interessierte ausführlich, weitere Informationen auf der Homepage; telefonische Beratung montags bis donnerstags 10-13 Uhr unter Telefon 0221/470-6298, Sprechstunden auch nach Vereinbarung. Die Begrüßungsveranstaltung der Erstsemester im Gasthörer- und Seniorenstudium findet am 18. April um 10 Uhr statt im Seminarraum BI, Uni-Bibliothek, Kerpener Straße 20. (MW)

www.koost.uni-koeln.de

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