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Erinnerungen„Keine vorübergehende Sache“

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Gäste beim 27. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1997 in Leipzig: Bundespräsident Roman Herzog (CDU, M.), Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (r.) und Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD). (Foto: dpa)

Gäste beim 27. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1997 in Leipzig: Bundespräsident Roman Herzog (CDU, M.), Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (r.) und Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD). (Foto: dpa)

Köln – Halb zog man ihn, halb sank er hin: Es war Mitternacht vom 19. auf den 20. März 1990, der Kandidat schlief schon, als die DDR-Genossen bei Dr. Hinrich Lehmann-Grube (SPD) anriefen, um ihn zu fragen, ob er in Leipzig als ihr Spitzenkandidat antreten würde. Den damaligen Oberstadtdirektor von Hannover traf die Frage nicht ganz unvorbereitet. „Ich hatte schon Überlegungen angestellt“, sagt der heute 81-Jährige, „ich hatte das Gefühl, ich müsste bei dem Friedenswerk mitwirken.“

Lehmann-Grube, aufgewachsen in Hamburg und von 1967 bis 1979 Beigeordneter für allgemeine Verwaltung in Köln, gab seinen Oberstadtdirektor-Posten in Hannover vorzeitig auf und stieg ins Politikgeschäft im Osten ein.

Zunächst stellte er sich als Leipziger Stadtverordneter zur Wahl. Voraussetzung: Die Annahme der DDR-Staatsangehörigkeit. „Ich habe das getan, um auch deutlich zu machen: Für mich ist das keine vorübergehende Sache, ich bin kein ,Aufbauhelfer’. Wenn ich das mache, dann mit vollem Elan“, erzählt er.

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Eine Sache ging ihm aber dann doch zu weit: Als er die DDR-Staatsangehörigkeit beantragte, wollte man ihn zunächst einmal ins Umerziehungslager schicken. Als Lehmann-Grube versicherte, das werde die Lachnummer der Nation, besannen sich die entscheidenden Herren eines Besseren, und im April erhielt er vom OB in Leipzig neue Papiere. Er wurde als Stadtverordneter gewählt. Mit der CDU gab es die Absprache, dass die stärkste Fraktion den Oberbürgermeister stellen sollte, „und für die SPD war ich das“. Im ersten Jahr als OB verdiente er 2000 Mark Ost – im Gegensatz zu 9000 Mark West in Hannover.

„Leipzig war runtergekommen, hat gestunken, die Luft war schlecht – das war der Blick aus Wessi-Augen“, sagt Lehmann-Grube. „Aber man muss auch sagen, heute gibt es Arm und Reich. Damals war die Gesellschaft – auf einem sehr niedrigen Niveau – gerechter.“ In den ersten zwei, drei Jahren nach dem Mauerfall verlor die Stadt 100 000 Industriearbeitsplätze. „Das war schon mühsam.“ Er begann, die Medienwirtschaft zu umwerben – mit Erfolg. Leipzig hat inzwischen 50 000 Arbeitsplätze im Medienbereich, ist Standort des Mitteldeutschen Rundfunks.

Als Lehmann-Grube ins Rathaus einzog, „kannte ich dort eine Person. Das war meine Sekretärin, und die war aus Hannover.“ Merkwürdigerweise seien die Vertreter der alten Führungsriege damals unauffindbar gewesen. „Der demokratische Stadtrat war fast begieriger als ich, saubere Verhältnisse zu schaffen.“ Lehmann-Grube musste sich seine Leute zusammensuchen, Amtsleiter finden, Beigeordnete verpflichten.

Selbstverwaltung gab es nicht, sie sollte nach westdeutschem Muster aufgebaut werden. Der OB bediente sich vieler Mitglieder des dortigen Runden Tisches – alles Leute, die von Verwaltung keine Ahnung hatten, „jüngere, die durch ihren Lebensstil klargemacht hatten, dass sie nicht zur alten Garde gehörten“. Die Leiter der technischen Ämter übernahm er, „die waren gut – keine Frage“. Dagegen wurde die Stelle des Planungsdezernenten mit einem „Wessi“ besetzt: „Das komplizierte westdeutsche Planungsrecht beherrschte dort damals niemand.“

Einige Anfangsschwierigkeiten sind für junge Leute heute kaum vorstellbar. „Es gab zum Beispiel nur ein kaum funktionierendes Telefon. Nach einem Dreivierteljahr – Ostern 1991 – wurde die erste große, neue Vermittlungsstelle der Telekom eingeweiht. Das war vielleicht eine Erleichterung!“, erzählt der 81-Jährige.

Eines der großen Themen sei die Wiedergewinnung der Stadtwerke von Leipzig gewesen. „RWE und Eon hatten die Elektrizitätsversorgung vom DDR-Staat gekauft. Da haben wir gefragt: ,Und wer küsst uns?’ Für die westdeutschen Städte war es eine Prinzipienfrage, die Stadtwerke in eigener Hand zu haben. Ich habe sie schließlich für Leipzig an Land gezogen.“

Probleme gab es auch mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen. „Nach westlichem Recht folgt dem Eigentum an Grund und Boden das des Hauses. In der DDR war das umgekehrt. Wir hatten in einem Leipziger Vorort eine Siedlung, die dort zu DDR-Zeiten gebaut worden war. Dann kam die Regelung, dass man die Wohnungen kaufen konnte und damit anteilig auch das Grundstück. Da sagten die Leute: ’Was, jetzt sollen wir auch noch das Grundstück kaufen? Wieso das denn, wir haben hier doch schon gebaut.’“

Auch nach seiner Amtszeit als OB ist Lehmann-Grube in Leipzig geblieben, seit 1999 ist er Ehrenbürger der Stadt. „Ich habe in Köln sehr viel für Leipzig gelernt“, sagt er, „die Leipziger haben es fertiggekriegt, ihr Selbstbewusstsein zu erhalten und den Stolz auf ihre Stadt.“ Leipzig sei tolerant, „einigermaßen locker“, und es werde nicht so verbissen gearbeitet wie beispielsweise in Chemnitz. „Sie feiern gerne, sie verstehen zu leben, das ist sehr angenehm“, versichert er, „aber ich merke gerade: Ich verfalle in den alten Jargon – ich habe nämlich mal bei den Roten Funken gedient.“

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