Leben mit den Folgen von ConterganBrigitte Rohr kämpft gegen die Spätschäden

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Sie ist eines der jüngsten Contergan-Opfer: Als Brigitte Rohr im Juli 1962 auf die Welt kam, war das Mittel seit ein paar Monaten offiziell vom Markt genommen. Im Alter von 18 Jahren bekam sie ihren ersten Rollstuhl.

Sie ist eines der jüngsten Contergan-Opfer: Als Brigitte Rohr im Juli 1962 auf die Welt kam, war das Mittel seit ein paar Monaten offiziell vom Markt genommen. Im Alter von 18 Jahren bekam sie ihren ersten Rollstuhl.

Köln – Klein, rechteckig, mit mehreren Knöpfen, so sehen die ständigen Begleiter von Brigitte Rohr aus. In ihrer Wohnung gibt es natürlich eine Fernbedienung für den Fernseher. Aber auch eine für die Haustür, eine für die Küchenschränke, eine für das Auto. „Mein Leben besteht aus Fernbedienungen, ich habe gut 20 Stück“, sagt die 54-Jährige.

Für sie bedeuten die kleinen Fernsteuerungen ein Stück Freiheit. Selbstbestimmt leben zu können, ist für sie das höchste Gut. Denn bei ihrer Geburt hatte kaum jemand gedacht, dass sie überhaupt lebensfähig sei. Brigitte Rohr ist eines der jüngsten Opfer des Contergan-Skandals der 50er Jahre.

Schwerste Nebenwirkungen durch Thalidomid

Vor 60 Jahren, im Juli 1956, wurde die Herstellung von Arzneien mit dem Wirkstoff Thalidomid genehmigt. Unter dem Namen Contergan wurde es ab Oktober 1957 bis zur offiziellen Marktrücknahme im November 1961 verschrieben, gerne bei Schwangeren, die unter Schlafstörungen litten. Die Nebenwirkungen des Medikaments waren Missbildungen bei den Kindern, deren Schwere abhängig davon war, in welchem Stadium der Schwangerschaft Contergan eingenommen wurde. 40 Prozent der Kinder starben kurz nach der Geburt oder im Säuglingsalter.

Brigitte Rohr war immer eine Kämpferin, ist es bis heute. Ihre Arme und Beine sind verkürzt, sie hat nur jeweils vier Finger. Ein Ohr liegt fast frei, auf diesem kann sie nicht hören. „Seit ich denken kann, habe ich Schmerzen. Und sie werden mit zunehmendem Alter immer schlimmer.“ Ohne Schmerzmittel könnte sie keinen Tag überstehen. Ihre Eltern waren nach der Geburt geschockt, wie so viele Eltern von Contergan-geschädigten Kindern. Aber im Gegensatz zu anderen konnten sie ihre Tochter nie so annehmen, wie sie war. „Meine Mutter hat mir nie verziehen, dass ich überlebt habe“, sagt Brigitte Rohr, das habe sie sie spüren lassen, ihr oft auch gesagt. Ihr Vater verprügelte sie, „ich muss dich hart machen für das Leben“, sagte er dann.

Die schönste Zeit ihrer Kindheit, erinnert sich Brigitte Rohr, waren die ersten sieben Jahre ihres Lebens. Als sie vier Monate alt war, kam sie ins Eduardus-Krankenhaus in Deutz, dort lebte sie bis zu ihrem 7. Geburtstag. „Ich hatte dort viele Freunde, auch andere Contergan-Kinder, es war eine schöne Zeit“, sagt sie. Wieder Zuhause begann die schwerste Zeit ihres Lebens, sie verlor im Streit mit dem Vater einen Fuß.

Als sie 17 war, starb ihr Vater. Mit 18 Jahren zog sie aus der Wohnung ihrer Mutter aus, nahm sich im gleichen Haus eine eigene Wohnung. „Ich habe einen starken Willen, manche Freunde sagen, ich sei ein Terrier, der sich festbeißt, wenn er etwas erreichen will“, so Rohr.

Schritte in die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung

Acht Monate, bevor sie ihre eigene Wohnung bezog, bekam sie eine Anstellung in einem Verlag. Seit 35 Jahren arbeitet sie mittlerweile dort als Sachbearbeiterin. Ein Jahr nach der eigenen Wohnung folgte der nächste Schritt der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung – Brigitte Rohr machte den Führerschein. Vor acht Jahren erfüllte sie sich einen Traum, sie zog nur ein paar Häuser weiter in eine ebenerdige Wohnung. „Die alte lag im ersten Stock. Ich bin immer die Treppen hochgerutscht. Einkäufe musste ich unten stehen lassen und Nachbarn bitten, sie mir hochzutragen.“

In der neuen Wohnung verfolgte sie konsequent das Ziel, diese behindertengerecht auszubauen. Hier will sie alt werden. Dafür suchte sie sich finanzielle Unterstützung. „Etwas einfach beantragen bringt meist nichts“, sagt sie aus Erfahrung. „Wenn ich etwas wirklich brauche, fahre ich zu den entsprechenden Ämtern oder Institutionen, ich mache vor, wo es hakt, erkläre, was ich brauche.“

Mehr Folgeschäden mit zunehmendem Alter

Die sanitären Anlagen in ihrem Bad sind niedriger angebracht, die Badewanne hat eine hydraulische Tür. Die Hängeschränke in der Küche, die sie für Stauraum braucht, kann sie elektronisch per Fernbedienung absenken. Sie hat einen Rollstuhl für drinnen und einen für draußen, mit einem kann sie sich auf 1,65 Meter Höhe bringen, um höhere Schränke zu erreichen. Ihr ganzer Stolz: Zwei Paternoster-Schränke im Schlafzimmer mit der ordentlich durchnummerierten DVD-Sammlung. „Kino ist meine große Leidenschaft, aber ich weiß, dass ich eines Tages nicht mehr raus kann.“ Für diese Zeit hat sie mit ihrer Sammlung vorgesorgt.

Denn wie alle Contergan-Geschädigten muss sich Brigitte Rohr mit zunehmendem Alter mit immer neuen Folgeschäden auseinandersetzen. Die 54-Jährige hat Arthritis und das Karpaltunnelsyndrom in den Armen – eine Nervenschädigung. In ihrer Kindheit wurden ihr die Beine gebrochen, in der Annahme, dass diese so begradigt werden könnten. Entsprechend empfindlich sind ihre Knochen. Experten, die auf die Behandlung von Contergan-Geschädigten spezialisiert sind, gibt es nicht viele. Brigitte Rohr hat einen gefunden – in Nümbrecht im Oberbergischen Kreis.

„Contergan war ein Attentat auf mein Leben, während ich noch in der Gebärmutter war. Ich muss dafür, was andere verbrochen haben, büßen. Lebenslänglich“, sagt Brigitte Rohr. Das klingt für einen kurzen Moment verbittert. Aber die 54-Jährige ist ein lebensfroher Mensch.

Sie ist schlagfertig und kommunikativ. „Und mit Assistenz und verschiedenen Hilfsmittel ist vieles möglich. Ich nehme mir alles raus, was sich Nicht-Behinderte rausnehmen“, sagt Rohr. Heißt: Sie sucht immer wieder nach Wegen, gegen das, was sie behindert, anzugehen. Und das Leben zu genießen. Zum Beispiel beim Treffen im Café mit ihren Freundinnen in der Stadt. Die Fernbedienung für die Rampe ihres Autos immer dabei.

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