UrsachenforschungWarum wählen so wenige in Köln-Chorweiler?

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In Chorweiler leben viele der 13.324 Einwohner in Hochhäusern. Im Stadtteil wohnen Menschen verschiedener Nationalitäten Tür an Tür.

In Chorweiler leben viele der 13.324 Einwohner in Hochhäusern. Im Stadtteil wohnen Menschen verschiedener Nationalitäten Tür an Tür.

Köln – Als Tanju Demirtas 1986 nach Chorweiler kommt, ist Johannes Rau noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Lange her. Jetzt, 31 Jahre später, darf Demirtas zum ersten Mal wählen bei der Landtagswahl am 14. Mai. Endlich.

Seit Ende 2015 hat der gebürtige Türke die deutsche Staatsbürgerschaft, ist wahlberechtigt. Der 42-Jährige bestimmt also mit, wer künftig regiert, einer der Nachfolger Raus wird. Demirtas sagt: „Natürlich gehe ich wählen, das bestimmt unsere Zukunft.“

Nicht alle denken so in Chorweiler: Der Stadtteil hatte bei der Landtagswahl 2012 laut Stadt die niedrigste Wahlbeteiligung aller 86 Stadtteile. 29 Prozent haben im Kölner Norden ihr Kreuzchen gemacht, nicht mal jeder Dritte.

Anders ausgedrückt: Bei 6019 Wahlberechtigten haben 1750 ihre Stimme abgegeben. Zum Vergleich: In Köln betrug die Wahlbeteiligung 59,3 Prozent, in Sülz 69,9 Prozent, in Klettenberg 73,1 Prozent, im Nobelstadtteil Hahnwald lag sie bei 76,6 Prozent (s. Grafik) Wobei: Dort sind nur 1400 Menschen wahlberechtigt gewesen.

Armin Schäfer, Politikwissenschaftler an der Uni Osnabrück, schrieb 2015 in der „FAZ“ dazu: „Je ärmer ein Stadtteil ist, desto mehr verzichten auf die Stimmabgabe.“ Nichtwähler bildeten keinen Querschnitt der Bevölkerung, die Wahlwahrscheinlichkeit unterscheide sich nach Schichtzugehörigkeit, Einkommen und Bildung.

In Chorweiler leben aktuell 13.324 Menschen, davon 5195 Ausländer, sie sind also nicht wahlberechtigt. Die Arbeitslosenquote liegt bei rund 17 Prozent (Hahnwald: 1,6). Das bringt Probleme mit sich. Probleme, die Taner Erdener kennt. Der 37-Jährige Türke ist dort geboren und aufgewachsen, arbeitet mittlerweile als Streetworker für die GAG Immobilien AG.

„Nicht zu wählen, ist auch ein Statement“

Erdener sagt: „Nicht zu wählen, ist auch ein Statement, die Menschen fühlen sich nicht repräsentiert von den Politikern.“ Es ist der Klassiker: Die da oben, wir hier unten. Elite gegen Unterschicht, kein Interesse an Politik. Wählen gehen bringt eh nichts. Alles Erklärungsansätze, die Wahlforscher Schäfer nennt.

So entsteht der typische Nichtwähler. In Chorweiler ist er besonders stark repräsentiert, gemessen an der Wahlbeteiligung. „Ich gehe nie wählen“, sagt eine 38-Jährige aus dem Stadtteil. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, sie sagt: „Es macht doch keinen Unterschied, ob ich wähle oder nicht.“ Warum? „Weil die Politiker machen, was sie wollen.“ Und: „Sie sagen vor der Wahl etwas anderes als sie hinterher umsetzen.“ Frust pur, gesammelt in 20 Jahren Nichtwähler-Dasein.

Ein Dasein, das diese Woche enden könnte. Ihre Schwester, eine Kellnerin, habe ihr geraten, zur Wahl zu gehen, die Linke zu wählen, von wegen Mindestlohn und so. Erdener kennt die Menschen und ihre Motive, „wir wollen dem entgegenwirken“. Mit „wir“ meint er Roman Friedrich, 41, und Hassan Fakhir, 38. Sie sind wie Erdener Streetworker, Friedrich bei der GAG, Fakhir bei der Jugz gGmbH.

Einmal die Woche laden sie 15 bis 20 Jugendliche in einen Debattierclub, darunter sind viele unterschiedliche Nationalitäten: Russen, Türken, Afghanen und Deutsche. Obwohl damit nicht alle wahlberechtigt sind, diskutieren die Jugendlichen über Demokratie und Wahlen. „Das ist Aufklärungsarbeit, wir vermitteln das Basiswissen“, sagt Friedrich. Dabei kümmern sich die Drei nicht allein um Jugendliche, sprechen auch ältere Menschen an, wollen sie zum Wählen bringen.

Von Klischees hält das Trio bei der Ursachenforschung ohnehin wenig, nennt nicht den einen Grund für die geringe Wahlbeteiligung in ihrer Heimat, ihrem Viertel. Erdener fordert von den Politikern, nach Chorweiler zu kommen und nicht nur dorthin zu gehen, wo sie sich viele Stimmen erhoffen. Er sagt: „Erreichst du das Herz, ist der Weg zum Kopf nicht weit. Es geht um Glaubwürdigkeit.“ Und es geht bald auch um Erdeners Herz, er hat die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, will bei der Bundestagswahl wählen, hofft auf eine schnelle Bearbeitung.

Ein weiteres Problem laut Friedrich: Die Sprache der Politiker, sie müsse volksnäher sein. Doch nur auf die Politiker will Erdener die Probleme nicht schieben. „Hier konzentrieren sich die Menschen auf ihre eigenen Probleme und nicht auf das Gemeinwesen.“

Zumal laut Schäfer Menschen, die nicht ihr Kreuzchen machen, unter sich bleiben: „Nichtwähler wohnen Tür an Tür mit anderen, die ebenfalls nicht wählen.“ Diese Sortierung ergebe sich schon durch die räumliche Trennung über den Mietmarkt. Das ist in Köln nicht anders. Um das zu ändern, müssen Wahlen und ihre Konsequenzen unmittelbar erlebbar gemacht werden, sagt Fakhir und nennt ein Beispiel: Unter 22 Jugendlichen ließ er per Internet abstimmen, was sie am nächsten Abend unternehmen sollten. Nur sechs beteiligten sich, am Ende stand fest: Es geht ins Kino.

Aha-Effekt

Nur: Das passte vielen der Nichtwähler nicht. Fakhir sagte: „Das passiert, wenn ihr nicht wählen geht.“ Im zweiten Wahlgang beteiligten sich 18 Jugendliche. Der berühmte Aha-Effekt. Das Projekt „Demokratie erleben“ soll nun noch stärker ihre Mechanismen erklären.

Auf die Schnelle sei das Phänomen „Nichtwähler“ nicht zu ändern, sagt Friedrich. Schäfer schreibt: „Ein Trend, der seit mehr als zwei Jahrzehnten anhält, ist kurzfristig nicht zu durchbrechen.“ Trotzdem sagt Friedrich: „Ich hoffe, wir werden nicht wieder Letzter.“

„Kulturelle Vererbung“

Die Motivation, zu einer Wahl zu gehen, ist nach Ansicht von Prof. Dr. Tilman Mayer unterschiedlich groß. Der Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn (64) sieht bei der Bundestagswahl am ehesten die Bereitschaft zur Stimmabgabe, gefolgt von der Landtags- und Europawahl. Bei der Kommunalwahl sei das Interesse, das eigene Votum einzubringen, am geringsten.

Mitunter komme es zu einer kulturellen Vererbung des Nicht-wählens innerhalb einer Familie. Mayer: „Die Menschen schaden sich also selbst, weil sie denken, dass es ohnehin nichts bringe, wählen zu gehen. Sie lassen ihre Chance liegen.“ Nichtwähler fühlten sich nicht ausreichend repräsentiert, zögen daraus aber nicht die Konsequenz, wählen zu gehen, sondern fühlten sich in der Wahlenthaltung sogar bestärkt. Diesen Zustand zu ändern, sei schwierig. Aufklärung komme oft nicht an. Auch die Politik bemühe sich dort, wo die Wahlbereitschaft höher ist, um Zustimmung. Dies ist ein „Teufelskreis“, sagt Mayer. (mhe)

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