DDR-Akten ausgewertetStasi hatte mehrere Spitzel auf Euskirchener angesetzt

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In den 50er-Jahren lebte Rolf Specht in West-Berlin. Die Stasi warf ihm vor, die DDR „ungesetzlich“ verlassen zu haben.

In den 50er-Jahren lebte Rolf Specht in West-Berlin. Die Stasi warf ihm vor, die DDR „ungesetzlich“ verlassen zu haben.

Euskirchen-Kirchheim – Im Rückblick spricht Rolf Specht von „Wahnsinn“. Hätten die Kontrolleure genauer hingeschaut, als er im Jahr 1984 in die DDR einreiste, er wäre wahrscheinlich im Gefängnis gelandet, da ist er sich ziemlich sicher.

Specht war auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters in den Ort Stiege im Harz. Weil er eine Reihe von Trauerkränzen der Verwandtschaft mitnehmen wollte, hatte er sich für die Fahrt von einem Bekannten einen großen Mercedes geliehen. „Der Wagen wurde mit Kränzen förmlich vollgestopft und wir fuhren zur Grenze nach Duderstadt.“ Die Kontrollen verliefen glimpflich, wie Specht sich erinnert. Tannenduft und Trauerkleidung, so vermutet er, lösten wohl Mitgefühl bei den „Grenzern“ aus.

Pistole im Handschuhfach vergessen

Beim Auspacken im Harz dann die Überraschung: Der Halter des Autos, ein Jäger, hatte vergessen, eine Pistole samt Munition aus dem Handschuhfach zu nehmen, als er Specht seinen Wagen überließ. „Mit dieser »Zeitbombe« haben wir die Grenze passiert. Es war unentschuldbar, dass mir so etwas passiert ist“, meint Specht. Dass er in Schwierigkeiten geraten wäre, wenn die Grenztruppen die Waffe entdeckt hätten, ist leicht erklärt. Der Staatssicherheitsdienst der DDR („Stasi“) hatte sich schon viele Jahre vorher für ihn interessiert.

Das weiß der heute 81 Jahre alte Kirchheimer aus den entsprechenden Akten über seinen Vater, die er im Oktober 1992 bei der sogenannten Gauck-Behörde angefordert hatte. Der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, so der sperrige Titel, überließ Specht 217 Kopien. Daraus geht hervor, dass die Stasi im Laufe der Jahrzehnte insgesamt elf „Inoffizielle Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches“ (IMS) und „Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“ (GMS) auf Ewald Specht angesetzt hatte. Sie nutzten Decknamen wie Evelin, Frieda, Radar und Waldläufer. „Sie kontrollierten sein Telefon, seine Post, seine Konten“, sagt sein Sohn. „Er war ein gläserner Mensch.“

Flucht 1943

Verheerende Bombenangriffe hatten die Familie des Elektromaschinenbau-Ingenieurs Specht 1943 gezwungen, Hamburg zu verlassen. Die Flucht, vorbei an „brennenden Phosphor-Leichen“, so sein Sohn, führte sie in die Lüneburger Heide, später zu seinen Großeltern in den Harz, während der Vater im Lazarett lag. „Mein Vater war einerseits Ingenieur mit dem Spezialgebiet Hochfrequenz, andererseits Interzonenkaufmann mit Wohnsitzen im Harz und in Hamburg und deshalb für die Russen sehr interessant. Sie wollten ihn als Spion anwerben“, erzählt Rolf Specht. Eines Tages wurde sein Vater abgeholt. „Meine Mutter wusste nicht, wohin sie ihn verschleppt haben.“

Später stellte sich heraus, dass er in Quedlinburg zehn Tage inhaftiert und fünf Nächte lang vernommen worden war. Ewald Specht weigerte sich aber, für die Sowjetunion zu arbeiten. „Die Warnung der Russen, er dürfe niemandem von den Gesprächen erzählen, sonst würde er nach den Gesetzen der DDR verurteilt, hat er nie vergessen“, so der Sohn.

Im Harz geriet Ewald Specht in das Visier der Sicherheitsbehörden. Ihr Urteil: Er sei ein „ausgesprochenen Feind“ der Gesellschaftsordnung der DDR. 1951 nahm man ihm den Führschein und den Interzonenpass ab. Mehrfach wurde er aufgefordert, in die SED einzutreten – „erst freundlich, dann mit Druck“, berichtet sein Sohn. „Er lehnte aber stets ab, obwohl sie ihn zweimal – 1951 und 1953 – sogar mit Untersuchungshaft mürbe machen wollten.“

Die Stasi-Akten zeigen die ganze Absurdität des staatlichen Überwachungsapparats. Ein Beispiel sind umfangreiche Recherchen des Unterleutnants G. zu einer Sendung Kartoffeln, die Ewald Specht 1968 aus West-Berlin erhalten hatte. Die Spitzel versuchten, daraus Verbindungen Spechts in den Westen zu konstruieren, die als Beweis für eine staatsfeindliche Tätigkeit dienen sollten. Tatsächlich stammten die Kartoffeln von einer Familie, die Ewald Specht aus der Kriegszeit kannte. Sie war damals, von Berlin aus, ebenfalls in den Harz geflüchtet.

Kopie eines Weihnachtsbriefes in den Stasi-Akten

Über seinen Sohn war die Stasi ebenfalls im Bilde. „Familie Specht unterhält derzeitig Verbindung zu ihrem Sohn, Rolf Specht, der in Kirchheim wohnhaft ist und als selbständiger Bauingenieur in der BRD tätig ist. Specht, Rolf verließ ungesetzlich die DDR“, heißt es in einer Akte.

„Die Stasi vermutete tatsächlich, ich würde Informationen, die ich von meinem Vater erhielt, zur Auswertung an den englischen Geheimdienst weiterleiten“, zitiert Rolf Specht aus den Unterlagen. Völlig überrascht war er, als er in den Stasi-Dokumenten die Kopie eines Weihnachtsbriefs entdeckte, den er 1971 aus Obertauern (Österreich) an seine Eltern geschrieben hatte.

„Eine klare Systematik ist in den unterschiedlichen Ausspähungen und Vernehmungen nicht zu erkennen“, sagt Rolf Specht. Dies änderte aber nichts daran, dass sein Vater 1971 „wegen Betruges und Verletzung der Preisvorschriften zu Lasten sozialistischen Eigentums“ zu drei Jahren Haft verurteilt wurde.

Um ihn freizubekommen, schaltete Rolf Specht mithilfe der Bundesregierung den bekannten Rechtsanwalt Wolfgang Vogel ein. Vogel war als Unterhändler der DDR unzählige Male an Verhandlungen zum Freikauf politischer Häftlinge durch die Bundesrepublik beteiligt. Mit seiner Unterstützung gelang es, Ewald Spechts Entlassung zu erwirken.

Sein Gesundheitszustand war in der Haft noch schlechter geworden, wie sich sein Sohn erinnert. Die DDR-Behörden setzten ihn „ohne einen Groschen“ auf freien Fuß. Ewald Specht war froh, einen Taxifahrer zu finden, der ihn von Halle in den Harz fuhr. Auch nach der Heimkehr sei sein schwer kranker Vater noch von der Stasi „betreut“ worden, so sein Sohn. „Wenn ich an die menschenverachtenden Methoden denke, fällt mir oft dieser Spruch ein: »Der größte Lump im ganzen Land ist der Denunziant.«“

Als er 13 Jahre später nach der Beerdigung seines Vaters aus der DDR zurück nach Kirchheim fahren wollte, musste er ein Problem lösen: Was sollte aus der Pistole aus dem Mercedes-Handschuhfach werden? Specht wollte sie nicht etwa vergraben, sondern ihrem Eigentümer zurückgeben. Also wickelte er sie in Fettpapier und versteckte sie im Unterboden des Wagens. „Auf der Rückfahrt baute sich mehr und mehr die Angst auf. Das Risiko war sehr groß – aber wir hatten sehr viel Glück.“ Wieder blieb die Waffe unentdeckt.

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