Vor 65 JahrenSkurriler Rathausstreit zwischen Wiedenest und Lieberhausen eskaliert

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Das Rathaus in Lieberhausen: Um den Sitz der Verwaltung entbrannte ein Streit, bei dem die Wiedenester vor drastischen Mitteln nicht zurückschreckten.

Das Rathaus in Lieberhausen: Um den Sitz der Verwaltung entbrannte ein Streit, bei dem die Wiedenester vor drastischen Mitteln nicht zurückschreckten.

Lieberhausen/Wiedenest – Der Streit zwischen Lieberhausen und Wiedenest schwelte schon seit das preußische Staatsministerium zum 1. Januar 1929 die beiden Orte zu einer Gemeinde zusammenlegte. Dass er am Ende eine solche Explosionskraft entwickelte, damit hatte wohl niemand gerechnet. Es war eine Frage der Ehre. Wer ist größer, wer wichtiger und vor allem: Wo sollte das Rathaus stehen?

Das Ministerium hatte verfügt, dass Sitz der Gemeinde und damit des Rathauses Lieberhausen bleiben solle. Die Wiedenester verwanden es nicht, dass sie mit der Zusammenlegung auch das bislang in Wiedenest beheimatete Standesamt verloren hatten. Alle Versuche, den Verwaltungssitz mehr in den Mittelpunkt der Gemeinde zu verlegen, scheiterten.

Maximal 140.000 D-Mark für das Vorhaben

Nach dem 2. Weltkrieg kam das Thema wieder hoch. Anfang 1952 ließ sich Bürgermeister Karl-Heinz Schriever – ohne den Gemeinderat zu informieren – vom Architekten Wilhelm Irle einen Plan für den Neubau eines Amtshauses in Wiedenest entwerfen und verband diesen geschickt mit einem Bauvorhaben der Sparkasse Bergneustadt, die Wohnungen und ein Domizil für die Feuerwehr bauen wollte. Der Plan umfasste elf Räume für die Gemeindeverwaltung, zwei Räume für die Sparkasse Bergneustadt (Zweigstelle Wiedenest) und vier Wohnungen, dazu im Kellergeschoss ein Feuerwehrdepot und einen Trockenraum für Feuerwehrschläuche.

Maximal 140 000 D-Mark sollte das Vorhaben kosten, Schriever hatte bereits eine Kreditzusage der Rheinischen Girozentrale und Provinzialbank in Düsseldorf in der Tasche. Großzügig wollte man Lieberhausen eine ständig besetzte Verwaltungsnebenstelle gönnen.

Zu klein für einen großen Kredit

In der Aussprache, die sich der Begutachtung der ausgelegten Pläne durch den Gemeinderat am 18. März 1952 anschloss, prallten die gegenteiligen Interessen aufeinander. Es ging hoch her. Der Vorsitzende musste wiederholt die Beifalls- und Missfallenskundgebungen der zahlreichen Zuhörer von beiden Seiten rügen. Der stellvertretende Bürgermeister Otto Wever aus Oberrengse räumte ein, dass der Wiedenester Teil zwar mehr Einwohner habe als der Lieberhäuser. Er stellte jedoch klar, dass das wirtschaftliche Schwergewicht, sprich die höheren Gewerbesteuer-Einnahmen, in Lieberhausen liege.

Nach ausführlicher Debatte wurde die Beschlussvorlage des Bürgermeisters mit 10:6 Stimmen, der Mehrheit der Wiedenester Ratsvertreter, angenommen. Der Neubau des Bürgermeisteramtes sollte gegenüber dem Ehrenmal von Wiedenest errichtet werden (heute Olper Straße 91).

Aber die Lieberhäuser gaben nicht klein bei: Sie schalteten Landrat Dr. August Dresbach wegen dessen Verbindungen zur Rheinischen Girozentrale und Provinzialbank ein, wandten sich an den Flüchtlingsminister (wegen der vermeintlich missbräuchlichen Nutzung von Wohnraum, der besser den Flüchtlingen zugestanden hätte), an den Innenminister und den Regierungspräsidenten. Das fruchtete, denn der Kreisausschuss untersagte der Gemeinde Lieberhausen die Kreditaufnahme. Martin Schäfer, Lieberhäuser und späterer Gummersbacher Stadtkämmerer, hatte in der Gemeindeordnung einen Passus entdeckt, wonach eine so kleine Gemeinde wie Lieberhausen einen derart großen Kredit nicht aufnehmen dürfe. Damit war der Rathausbau in Wiedenest erst einmal blockiert.

Tumultartige Züge in anschließender Debatte

Aber Schriever gab nicht auf: Nachdem der Bau eines Verwaltungsgebäudes nicht möglich sei, werde man ein von der Baugesellschaft Wiedenest angebotenes Wohnhaus in Anspruch nehmen. Er verlas ein Schreiben der Baugesellschaft, nach dem diese bereit sei, der Gemeinde eines ihrer neu errichteten Häuser In der Bockemühle für zwei Jahre mietfrei zu überlassen. Dabei handelte es sich um das Haus in der heutigen Wilhelm-Schriever-Straße 1.

Die anschließende Debatte nahm tumultartige Züge an. Vize-Bürgermeister Otto Wever aus Oberrengse appellierte schließlich an die Vernunft und stellte den Antrag, „die Frage der Verlegung des Verwaltungssitzes bis nach den Neuwahlen der Gemeindevertretung am 9. November 1952 zurückzustellen“. Das wurde mit 10:6 Stimmen abgelehnt, das Mietangebot mit demselben Ergebnis angenommen.

Wiedenester fackelten nicht lange

Das für sie gute Ergebnis im Rücken, fackelten die Wiedenester nicht lange. Der Umzug sei ein wahres Husarenstück gewesen, berichtete 65 Jahre später der damals 21-jährige Werner Röttger aus Pernze, einer der Beteiligten.⁹ Unter Führung von Karl-Heinz Schriever, der ja einen Schlüssel zum Lieberhäuser Rathaus besaß, räumten es „junge Wilde“ aus Wiedenest und Pernze – Alfred Häner, Emil Ludes, Willi Feldmann, Arthur Fuchs, Arno und Werner Röttger – über Nacht einfach aus. Im Dunkeln und unbemerkt von den Lieberhäusern luden sie das gesamte Rathausinventar einschließlich Gemeindekasse, Verwaltungsakten, Büromöbel und Telefone auf den Lkw von Fuchs und karrten es nach Wiedenest. In der heutigen Wilhelm-Schriever-Straße 1 wurde der neue Verwaltungssitz der Gemeinde Lieberhausen eingerichtet.

Das Rathaus war weg, aber diesmal waren es die Lieberhäuser, die nicht aufgaben. Durch geschicktes Taktieren und eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit, mit der sie sich als würdige Nachfahren der trickreichen Sagengestalt und ihrer Wappenfigur Hick erwiesen, schafften sie es , bei der Aufstellung der Kandidatenliste für die Kommunalwahl am 9. November 1952 im neuen Rat wieder die Mehrheit zu erreichen.

Der beredte und kompromisslose Lehrer Walter Busch, der schwer kriegsbeschädigt war, kam auf die Idee, dass alle vom Krieg beschädigten Bürger (vermutlich hat er dabei sowohl die körperlich als auch materiell Beschädigten einbezogen) für den erst 1950 gegründeten Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) stimmen sollten. Auch Otto Wever (CDU) bemühte sich intensiv um die Wahlberechtigten. Mit dem Auftrag, an der richtige Stelle, sprich beim BHE, ihre Kreuzchen zu machen, karrten Busch und seine patriotischen Lieberhäuser Freunde am 9. November sogar Wähler von den Dörfern in die Wahllokale.

Diese Strategie führte zu einem durchschlagenden Erfolg: Der BHE erhielt sieben, die FDP sechs, die CDU drei und die SPD zwei Sitze im neuen Rat. Jetzt lag das Stimmenverhältnis zwischen Lieberhausen und Wiedenest bei 10:8.⁴Bei der ersten Sitzung des neuen Rates am 22. November 1952 im bis auf den letzten Platz besetzten Saal der Gastwirtschaft Breimann wurde Otto Wever mit zehn Stimmen aus Lieberhausen bei acht Enthaltungen aus Wiedenest als neuer Bürgermeister gewählt.

Die Lieberhäuser Ratsmehrheit fackelte nicht lange: Der neue Bürgermeister berief eine weitere außerordentliche Ratssitzung im Waldheim Lieberhausen für den 28. November 1952 ein, in der die Rückverlegung der Gemeindeverwaltung nach Lieberhausen mit 10:8 Stimmen beschlossen wurde. Unverzüglich wurde der Umzug auf den nächsten Tag festgelegt: Samstag, 29. November 1952.

Sprengstoff aus Steinbruch besorgt

Gert Rath, der als FDP-Kandidat in den neuen Gemeinderat eingezogen war, stellte einen Firmen-Lkw für den Rückumzug des Rathausinventars zur Verfügung.⁶ Am Umzugstag erwartete den Lkw-Fahrer in Wiedenest indes eine böse Überraschung: Die Wiedenester hatten in der Straße In der Bockemühle die Brücke über die Dörspe gesprengt – und so den einzigen Zugangsweg zum vorläufigen Verwaltungssitz, an dem das Umzugsgut gelagert war, blockiert.

Nach Angaben von Werner Röttger war die gefährliche Aktion jedoch schief gelaufen, denn Emil Ludes, Otto Heukelbach und vermutlich auch Fritz Uelner, die den Sprengstoff aus einem der Steinbrüche in der Umgebung beschafft hatten, hatten die Brücke nur teilweise zum Einsturz gebracht. Sie wurde schon am gleichen Tag mit einer über die Einsturzstelle gelegten Eisenplatte behelfsmäßig repariert, sodass der Umzugswagen passieren konnte.

Die Zeitungen sprachen von einem schlechten Schildbürgerstreich, aber die angekündigten Ermittlungen zur Bestrafung der Täter verliefen im Sande. Gegenüber der Polizei spielten die Verdächtigen den Vorfall erfolgreich als Dummejungenstreich herunter. Die Dorfgemeinschaft aber soll mächtig stolz auf den Coup gewesen sein. Die Amtssitz-Affäre vergiftete lange das Verhältnis der beiden Gemeindeteile. Wever, der bis 1963 Bürgermeister blieb und auch lange Jahre Mitglied des Kreistages war, gelang es aber, die Wogen zu glätten, sodass es später zu einer relativ normalen Zusammenarbeit kam.

„Unter großem Jubel der Lieberhäuser“, so erzählte später Gert Rath, „kehrte das Rathausinventar wieder nach Lieberhausen zurück.“⁶ Lieberhausen blieb, zum Leidwesen vieler Wiedenester und Pernzer, bis zur kommunalen Gebietsreform „Hauptstadt“ der Gemeinde. Am 1. Juli 1969 wurde Lieberhausen aufgelöst, wobei der Lieberhäuser Teil Gummersbach und der Wiedenester Teil plus Rosenthal, Rosenthalseifen, Niederrengse und Bösinghausen Bergneustadt zugeschlagen wurde. Auch die neue Gemeinde Reichshof erhielt Gebietsteile.

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