Gesamtschule MarienheideProbleme mit der Inklusion

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90 Minuten unterwegs: Wenn Stephan Kayser allen Schülern im Erdkundeunterricht helfen will, ist er auf sich gestellt.

90 Minuten unterwegs: Wenn Stephan Kayser allen Schülern im Erdkundeunterricht helfen will, ist er auf sich gestellt.

Marienheide – In einem offenen Brief hat Schulleiter Wolfgang Krug Verantwortliche – vom Rathaus bis hinauf zur Ministerpräsidentin – eingeladen, sich die Probleme mit der Inklusion in der Gesamtschule Marienheide anzusehen. Wir sind der Einladung gefolgt: Unser Redakteur Harald Knoop hat sich den Unterricht angesehen und mit Lehrern und Eltern gesprochen.

Die 9d muss sich umstellen. Ein Jahr haben die Marienheider Gesamtschüler keinen Erdkundeunterricht gehabt. Jetzt zum Beginn des neuen Schuljahres muss ihr Klassenlehrer Stefan Kayser deshalb erst mal Organisatorisches regeln. Wer hat seinen Atlas dabei?

Die ersten Aufgabenblätter werden verteilt, die Schüler machen sich an die Arbeit, einzeln oder zu zweit, Kayser hat es ihnen freigestellt, jeder hilft jedem. Unter den Schülern der 9d sind sechs Schüler mit besonderem Förderbedarf, wie es im Amtsdeutsch heißt.

In den folgenden 90 Minuten ist Kayser pausenlos zwischen den Tischreihen unterwegs. „Mit Kondensstreifen unterrichten“ nennt er das. Erdkunde ist ein Nebenfach, da muss er ohne die Hilfe eines Sonderpädagogen auskommen, der sich besonders um die Förderschüler kümmert. So sieht es die Inklusion eigentlich vor.

In erster Linie den Schülern verpflichtet

In der letzten Ferienwoche hatte sich Schulleiter Wolfgang Krug im Auftrag der Schulkonferenz mit einem Brief an die politisch Verantwortlichen bis hinauf zur Ministerpräsidentin in gewandt und den Mangel an Förderlehrern beklagt. Mehr als 70 Förderkinder soll im neuen Schuljahr geholfen werden, ganze drei Sonderpädagogen hat die Schule dafür zugewiesen bekommen (wir berichteten). Jedes Jahr kommen mehr Förderschüler dazu, unter den gegenwärtigen Bedingungen könne man ihnen nicht mehr gerecht werden, es drohe der Inklusions-Kollaps, sagt Krug.

Obwohl das an vielen anderen Schulen genauso gesehen wird (s. Kasten unten), missfiel den Vorgesetzten, dass Schulleiter Krug den Mangel an seiner Schule öffentlich machte. Er sei, so ist aus Elternkreisen hören, deshalb von der Bezirksregierung an seine Loyalitätspflichten erinnert worden.

Aber auch Anette Sändker sieht sich als Lehrerin in erster Linie den Schülern verpflichtet. Sie ist Klassenlehrerin der 7d und Abteilungsleiterin an der Gesamtschule. Rechtschreibung steht an diesem Morgen auf dem Stundenplan, genauer, die Nominalisierung von Verben. Wie in der Erdkundestunde von Stephan Kayser geht es erstaunlich ruhig zu. Die Kinder arbeiten mit, bei jeder Frage schnellen die Finger in die Höhe. In der letzten Reihe sind drei Jungs mit einem anderen Arbeitszettel beschäftigt. Es geht darum, Alltagsgegenstände richtig zu benennen und aufzuschreiben, den Bleistift etwa. Sändker erklärt: Einer der drei ist Flüchtling, unbegleitet ist er in Deutschland angekommen. Zwei Klassenkameraden sitzen neben ihm, um zu helfen. Die beiden sind LES-Förderschüler (s. Infokasten rechts), „die haben sich freiwillig dafür gemeldet“, freut sich die Pädagogin.

Das Schuljahr hat geradebegonnen, es sind die ersten Unterrichtsstunden am Tag, die Stimmung ist entspannt. Je weiter beides voranschreitet, desto anstrengender wird es für die Förderschüler. Es fällt ihnen schwerer, sich zu konzentrieren. Dagegen helfen mitunter Kopfhörer. Manche werden laut, stören die anderen Schüler. „Früher konnte der Förderlehrer mit ihnen rausgehen, mit ihnen reden, sie beschäftigten“, sagt Anette Sändker. Heute muss sie selber gehen. Die Klasse bekommt eine Stillarbeit oder macht schon Hausaufgaben, während Sändker sich draußen mit dem Förderschüler befasst: „Aber das wird beiden Teilen nicht gerecht. Den Förderschülern nicht, die Hilfe brauchen, und dem Rest der Klasse nicht, der ein Recht auf Unterricht hat“. Die erfahrene Pädagogin hat sich ein ganzes Repertoire von Tricks und Hilfsmitteln zurechtlegen müssen, um den Spagat hinzubekommen.

Den bestmöglichen Abschluss für jedes Kind

Manuela Meyer-Thijssen gehört zur Klassenpflegschaft und hat eine Tochter in der 7e: Das Niveau sei durch die Förderschüler nicht gesunken, sagt sie. Die Kinder profitierten von einander. „Und dass sie sich gegenseitig helfen, ist eine wichtige Tugend.“

Der Umgang zwischen Regel- und Förderschülern ist durchweg gut, bestätigen Lehrer und Elternvertreter später im Gespräch. Die Schüler wissen, dass die Förderschüler Hilfe brauchen, anders lernen und zum Teil auch andere Zeugnisse bekommen. „Aber das ist dann kein Thema mehr“, bestätigt Sonderpädagoge Uwe Renner. Er ist einer der drei Förderlehrer an der Gesamtschule hat und hat sich hierher versetzen lassen. Doch seine Möglichkeiten zu helfen, werden von Jahr zu Jahr weniger. Immer mehr Förderschüler kommen, dazu noch die Flüchtlinge. Die Klassen werden immer größer.

Förderlehrer werden nach einem Budgetsystem verteilt. Drei stehen der Gesamtschule zu, egal wie viele Förderschüler sie hat. 71 sind es mittlerweile. Um jeden können sich Renner und seine Kollegen im Schnitt nur noch 1,2 Stunden pro Woche kümmern.

Als Stefan Eckel seinen Sohn mit seinem emotionalen und sozialen Förderbedarf 2012 für die erste Integrative Klasse an der Gesamtschule anmeldete, „waren wir so froh, das wir angenommen wurden“. Sein Sohn, sagt er, „war wirklich nicht immer einfach“. Er braucht feste Regeln . Die Hilfe, die er bekam, hat gewirkt: Eckels Sohn gehört heute zu den Leistungsträgern der 9d. „Bleiben die Noten so, kann er nächstes Jahr in die Oberstufe wechseln“, sagt Schulleiter Krug.

FÖRDERBEDARF

Für manche Schülerinnen und Schüler wird ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung festgestellt. Sie sollen nach ihrem individuellen Bedarf sonderpädagogisch gefördert werden.

Die sonderpädagogische Förderung umfasst die Lern- und Entwicklungsstörungen (LES), also die Förderschwerpunkte

1. Lernen,

2. Sprache,

3. Emotionale und soziale Entwicklung,

und darüber hinaus die Förderschwerpunkte

4. Hören und Kommunikation,

5. Sehen,

6. Geistige Entwicklung sowie

7. Körperliche und motorische Entwicklung. (r)

Eckel erlebt die Verschlechterungen in der Förderung derzeit mit. „Wenn ich noch mal ein Kind in der fünften Klasse anzumelden hätte, würde ich das unter den aktuellen Umständen nicht mehr so machen.“ Sollte sich nicht bald etwas an der Situation ändern, müsse deutlicher Protest organisiert werden. Unterstützung bekämen die Eltern dabei bestimmt aus dem Rathaus. Dort sieht auch Fachbereichsleiter Thomas Garn die an sich gute Idee der Inklusion gefährdet: „Uns gefällt nicht, wie das läuft. Das Land ist am Zug.“

Die Lehrer bemühen sich nach Kräften, die fehlende sonderpädagogische Unterstützung im Unterricht auszugleichen. „Irgendwie kriegen wir das bislang immer noch hin“, sagt Anette Sändler, fügt aber sofort hinzu: „Das geht zulasten unserer Gesundheit und zulasten der Kinder. Wir wollen jedes Kind zum bestmöglichen Abschluss führen. Doch unter diesen Bedingungen wird das nicht mehr gehen.“

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