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HärtefallAutist kostet Elsdorf 1,6 Millionen Euro – Frage nach Zuständigkeiten

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Symbolbild

Elsdorf – Schon im Kindergarten fiel der heute 17-jährige Lukas (Name geändert) immer wieder auf. Wenn ein Wutanfall ihn packte, schlug er wild um sich. Er wurde aggressiv, zerstörte Spielsachen oder warf sie durch den Raum.

Eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde damals diagnostiziert. Seither durchlief Lukas viele Therapien und Betreuungsformen, ohne dass sich sein Verhalten entscheidend verändert hätte. Nach der Trennung der Eltern war die Mutter 2011 mit dem Jungen nach Elsdorf gezogen. Der Fall hat die Stadt bislang 1,6 Millionen Euro gekostet.

Der Rat beschloss kürzlich auf Drängen des Jugendamtes, den Petitionsausschuss des Landes anzurufen mit der Forderung, die Zuständigkeit für solche Härtefälle in Zukunft anders zu regeln.

Das Elsdorfer Jugendamt beschreibt Lukas’ Verhaltensauffälligkeit als „extrem ausgeprägtes Krankheitsbild des Asperger-Autismus-Syndroms“. Seitdem Lukas in Elsdorf gemeldet ist, ist das dortige Jugendamt zuständig für seine sonderpädagogische und therapeutische Betreuung.

Lukas’ Gewaltausbrüche machten auch vor seiner Mutter, den Mitschülern und Integrationshelfern nicht Halt. Mehrere Male musste er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär behandelt werden. Vor neun Jahren schon war bei einem solchen Klinikaufenthalt die autistische Störung diagnostiziert worden.

Körperliche Übergriffe

Danach wurde dem Jungen ein Schulbegleiter zur Seite gestellt. Allerdings kündigte der beauftragte Träger die Maßnahme, nachdem der Integrationshelfer nach einem körperlichen Übergriff eine Rippenprellung erlitten hatte. Lukas sollte in einer speziellen Therapie für Autisten lernen, mit sich und seiner Umwelt besser zurechtzukommen. All das musste die Stadt Elsdorf als sogenannte „Eingliederungshilfe“ bezahlen.

Mehrere vergebliche Versuche der Betreuung ließen jedoch irgendwann erkennen, dass der Jugendliche pädagogisch nicht mehr erreichbar war und gegen jegliche Regeln rebellierte. Hinzu kamen mehrere Selbstmordversuche und -ankündigungen.

Eins-zu-Eins-Betreuung

Das Jugendamt ordnete eine Eins-zu-Eins-Betreuung an, aber auch die kündigten die jeweiligen Anbieter, nachdem der Junge wiederholt die Helfer angegriffen oder sich selbst verletzt hatte. In der Diakonie Michaelshoven wurden gar zwei Individual-Betreuer für ihn abgestellt. Nach zerbrochenen Fensterscheiben und Attacken gegen Betreuer wurde Lukas erneut in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Da die Ärzte jedoch „keine akute psychiatrische Erkrankung“ diagnostizierten, wurde eine dauerhafte Unterbringung in einer Klinik zunächst abgelehnt.

Seit 2016 in geschlossener Abteilung

Vor zwei Jahren war der Jugendliche für wenige Tage im Zievericher CJG-Haus St. Gereon untergebracht. Rund um die Uhr wurde er beobachtet und pädagogisch betreut. Dennoch richtete er auch dort erheblichen Sachschaden an, was eine neuerliche Einweisung in die Psychiatrie nach sich zog.

Seit 2016 hält sich der Jugendliche in einer geschlossenen Abteilung auf. Aber auch dort kommt es immer wieder zu Eskalationen mit Sachbeschädigungen, auch zu sexuellen Übergriffen. Das Jugendamt beschreibt den Fall in einer anonymisierten Schilderung mit „mangelnder Aussicht auf Erfolg“. Die deutschlandweite Suche nach einem Therapieplatz in einer offenen Einrichtung blieb erfolglos. Die Jugendhilfe beschränke sich derzeit auf „Verwahrung, Deeskalation und Kostenträgerschaft“.

100 vergleichbare Fälle

Bundesweit gibt es etwa 100 vergleichbarer Erkrankungsfälle, schätzt das Jugendamt. Nach dem Sozialgesetz ist Elsdorf verpflichtet, die Betreuung zu organisieren und die Kosten zu tragen.

Der Rat hat die Anrufung des Petitionsausschusses einstimmig beschlossen und will erreichen, dass die Fallverantwortung bei extrem ausgeprägten Autismus-Erkrankungen neu geregelt wird, damit die Kosten nicht unausweichlich an der jeweiligen Kommune hängenbleiben. Schließlich habe diese keinen Einfluss darauf, dass ein Mensch mit einem solch komplizierten und aufwendigen Krankheitsbild mehr oder weniger zufällig in ihre Zuständigkeit falle.

Der beschriebene Fall des Autisten Lukas nimmt laut Jugendamt 16 Prozent des Elsdorfer Jahres-Etats der erzieherischen Hilfen in Anspruch.

„Autisten sind meist Opfer und nicht Täter“

Sylvia Wollerich ist Pädagogische Leiterin und Diplom-Sozialpädagogin im auf Autismus spezialisierten ambulanten Therapiezentrum Düren-Nordeifel, einer Tochter der Lebenshilfe Zülpich. Mit ihr sprach Dietmar Fratz über Autismus und mögliche Therapien.

Frau Wollerich, was ist die besondere Form von Asperger-Autismus?

Die Menschen mit frühkindlichem Autismus sind zu 80 Prozent geistig und/oder körperlich behindert. Beim Asperger-Autismus dagegen stehen uns normal bis hoch intelligente Menschen gegenüber, die keine körperlichen Einschränkungen zeigen. Oft haben sie Inselbegabungen, kennen zum Beispiel komplette Busfahrpläne oder Fußballergebnisse auswendig. Sie zeigen Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und in ihrer Empathiefähigkeit, das bedeutet unter anderem einen Mangel an sozialer und emotionaler Gegenseitigkeit. Zudem suchen sie kaum Blickkontakt zum Gegenüber. Sie halten fest an starren Regeln und Routinen, die ihnen Sicherheit im Alltag geben.

Welche Ursache kann eine außergewöhnliche Gewaltbereitschaft haben?

Aus den oben genannten Problemen ergeben sich die Schwierigkeiten für den Menschen mit Autismus, dass häufig Konfliktsituationen durch Missverständnisse im sozialen Miteinander entstehen. Viele Menschen mit Autismus können ihre Emotionen nicht mitteilen und auf die Emotionen ihres Gegenübers nicht adäquat reagieren. Meistens sind Aggressionen in der Biografie der Autisten zu finden.

Wie sind die Heilungsaussichten bei Asperger-Autismus?

Es wird angenommen, dass genetische Abweichungen mögliche Ursachen des Autismus sind. Autismus ist generell nicht heilbar, aber durch gezielte Therapien können Beeinträchtigungen gemildert werden. Menschen mit Autismus brauchen viel mehr Strukturen und Routinen im Alltag, damit sie nicht in Überforderungssituationen geraten. Die Kriminalstatistik zeigt übrigens, dass Menschen mit Autismus eine sehr niedrige Kriminalrate aufweisen. Sie sind meist Opfer und nicht Täter.

„Es gibt keine Eingliederungshilfe nach Kassenlage“

Zur Rechtslage und zu möglichen finanziellen Lösungen sprach Dietmar Fratz mit Christian Frese, Geschäftsführer des Bundesverbands Autismus Deutschland in Hamburg.

Warum und in welcher Höhe muss eine Kommune Eingliederungshilfe für behinderte Kinder zahlen?

Eingliederungshilfe ist ein individueller Rechtsanspruch, der nicht eine absolute finanzielle Höhe kennt. Das heißt, die individuell notwendigen Leistungen müssen in unbegrenzter Höhe finanziert werden, so wie der Bedarf besteht.

Wer legt den Bedarf fest?

Maßstab ist der objektiv notwendige Bedarf. Bedarfsermittlung ist eine schwierige Frage, das ist ein kooperatives und partizipatives Verfahren zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigten. Zu berücksichtigen sind die Erkenntnisse sachverständiger Personen und Institutionen wie Schulen, Ärzte und anderer, die eine Aussage dazu treffen können, was der behinderte Mensch braucht, um in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Das kann Hilfe zur Schulbildung sein, eine ambulante Therapie, stationäre Unterbringung in einer Einrichtung mit einem intensivem Personalschlüssel mit 24-Stunden-Betreuung sein. Es kann auch sein, dass eine Einzelbetreuung unumgänglich ist.

Ist Ihnen ein Fall wie der Elsdorfer schon einmal vorgekommen? Können Sie sich Kosten in Höhe von 1,6 Millionen Euro vorstellen?

Es ist ungewöhnlich viel, aber auf einen längeren Zeitraum gesehen durchaus vorstellbar. Der Tagessatz in einer Betreuungseinrichtung kann beispielsweise bei 350 Euro liegen. Wenn ich den auf mehrere Jahre hochrechne und dann noch weitere Leistungen dazu rechne, dann kommt man schon in den Millionenbereich. Ich kenne aber keine Stadt, die das so schon einmal vorgerechnet hat und dann sagt: Jetzt wird es uns aber zu viel. Große Städte, wie Hamburg oder München, haben ja auch solche Fälle. Das fällt aber im Gesamtetat nicht so auf, weil der ja mehrere Hundert Millionen beträgt.

Was ist, wenn eine Kommune sagt: Wir können das aus unserem Haushalt nicht mehr bezahlen?

Ich bin kein Experte im kommunalen Finanzrecht. Wir sprechen immer aus dem Blickwinkel der Betroffenen und ermutigen diese, ihre Ansprüche geltend zu machen. Sie dürfen nie ein schlechtes Gewissen haben, weil die Kosten hoch sind. Sie haben eine individuellen einklagbaren Rechtsanspruch, der nicht auf eine bestimmte Summe begrenzt ist. Das hat der Gesetzgeber ausdrücklich so gewollt. Es gibt keine Eingliederungshilfe nach Kassenlage. Nur weil jemand sich pleite fühlt oder es ist, darf er die Eingliederungshilfe nicht begrenzen. Er kann Schwimmbäder und Museum schließen, weil dies freiwillige Leistungen sind und nicht für die Daseinsvorsorge elementar sind. Er darf aber niemals die Eingliederungshilfe kürzen, mit dem Argument, dass man kein Geld habe.

Was ist aber, wenn das Geld in einer Kommune wirklich nicht da ist?

Dann ist die nächst höhere Körperschaft in der Pflicht. Es müsste nach meiner Kenntnis ein Nothaushalt aufgestellt werden, und das Land müsste die Kosten übernehmen.

Können Sie es nachvollziehen, wenn sich die Stadt Elsdorf an den Petitionsausschuss wendet?

Das finde ich plausibel. Man könnte ja auch argumentieren, dass man durch diesen einen Fall notgedrungen, andere, die sich nicht so laut mit Ansprüchen melden, unter den Tisch fallen lässt. Die Stadt kann argumentieren, dass sie ihre Mittel gleichmäßiger auf alle Einwohner verteilen will.

Wie könnten solche Fälle in Zukunft vermieden werden?

Es gab immer schon die Idee, die Eingliederungshilfe aus der Zuständigkeit der Kommunen zu nehmen und auf den Bund zu übertragen. Wenn der Bund für alle Personen gleichermaßen zuständig wäre, würde es diese für Kommunen belastenden Fälle nicht mehr geben. Bei Kosten, die in die Milliarden gehen können, würde ein Einzelfall nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Die Kosten würden auf die Allgemeinheit verteilt.

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