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HennefBühne für die alten Kameras – Novotny wurde mit „Selfies“ weltberühmt

Lesezeit 5 Minuten
Selbstporträt vom Künstler: Jürgen Novotny hat sich schick gemacht und drückt selbst ab. Mit seiner Fotoserie „Cameraselfies“ wurde er berühmt.

Selbstporträt vom Künstler: Jürgen Novotny hat sich schick gemacht und drückt selbst ab. Mit seiner Fotoserie „Cameraselfies“ wurde er berühmt.

Hennef – Jürgen Novotny aus Hennef ist ein Allrounder. Was ihn fasziniert, verfolgt er mit Akribie und Leidenschaft.

Als er an einem Dezembertag im Jahr 2014 das Telefon abhebt, hat er eine Journalistin des amerikanischen Nachrichtensenders CNN in der Leitung. New York - Hennef, Hennef - New York: Sie will mit ihm über seine Fotoserie „Cameraselfies“ sprechen.

Und tritt mit dem Artikel, den sie nach diesem Telefonat schreibt, eine mediale Lawine los. Die Bilder des Hennefers werden millionenfach geklickt. Redakteure aus der ganzen Welt wollen Novotnys Foto-Projekt veröffentlichen. Demnächst will er einen Fotoband mit 100 Cameraselfies herausbringen.

Kritik an Selbstdarstellung

Novotny hat Kameras fotografiert – aus einer Zeit, als es zum Fotografieren mehr brauchte als ein Handy. Er lichtete Klassiker von Polaroid oder Kodak frontal ab. Sie spiegeln sich in ihrer eigenen Linse, so als hätten sie sich selbst fotografiert.

„Ich wollte den Selfie- und Selbstdarstellungstrend kritisieren und den alten Kameras eine Bühne geben“, sagt der 51-Jährige. In seinem Büro hängt ein gerahmtes Titelblatt des Magazins Profifoto. Coverstar ist Bella, ein Modell der Marke Bilora.

Die erste Kamera bekam Novotny von seinem Vater, als er sechs war. Die Leidenschaft packte ihn und ließ ihn nicht mehr los. In der Regel ersteigert er die ausrangierten Modelle bei eBay. „Ich konnte nicht mit ansehen, wie die Fotoapparate, die ich mir als Jugendlicher nie leisten konnte, im Internet verscherbelt wurden“, sagt er.

„Sie sind verlassen worden und ich wollte ihnen ein kleines Denkmal setzen.“ Für die „Selfies“ arrangiert er sie vor zeitgenössischen Tapeten. Die Tower Automatic 127 der amerikanischen Firma Sears aus den 70er-Jahren zum Beispiel vor einem orange-braunen Wellenmuster der 60er Jahre.

Novotny interessiert sich für alles, will möglichst vieles verstehen und bringt sich das meiste selbst bei. Er hat in seinem Leben Astronauten trainiert, das Wachstum von Wurzeln und Schleimpilzen in der Schwerelosigkeit erforscht, mit seiner Frau die erste Videoverbindung aus der Antarktis hergestellt, die erste Gesundheitsakte der Welt programmiert, ein Album aufgenommen und Filmmusik komponiert. Novotny ist Künstler, Fotograf, Techniker, Programmierer – auf nichts davon kann man ihn festlegen.

Studiert hat er Fertigungstechnik, obwohl er ursprünglich Design studieren wollte. Danach arbeitete er 13 Jahre lang beim Deutschen Zentrum für Luft -und Raumfahrt in Köln. Irgendwann sei dort für ihn nicht mehr viel zu tun gewesen, weil die NASA die Deutschen technisch überholt hatte, sagt er. „Ich wollte nicht bis zur Rente vor mich hinvegetieren“, begründet er seine Entscheidung, den Job zu kündigen. „Mir ist es einfach wichtig, meine Kreativität auszuleben.“ 1998 gründet er die Kommunikationsagentur Vivia. Für Kunden gestaltet er seitdem Prints und Online-Auftritte, unter anderem für die Stadt Hennef.

Sein Büro hat er zu Hause. Nachbar und Freund Ranga Yogeshwar sagt: „Ich habe ihn bezirzt, damit er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in unsere Straße zieht.“ Ihre Häuser liegen an einer Straße, die in eine von Eichen bewachsene Hügellandschaft führt. Wenn die beiden spazieren gehen, gehen ihnen die Themen nicht aus.

Novotny ist aus der Sicht des Wissenschaftsjournalisten jemand, der alles zu Ende denkt und akribisch umsetzt. „Jürgen ist manchmal besessen von den Sachen, mit denen er sich beschäftigt“, sagt Yogeshwar und lacht. „Da muss man ihn schon mal bremsen.“

Bilder aus seinem Traum

In seiner Online-Fotogalerie „Light upon my Face“ zeigt Novotny Arbeiten, die während der vergangenen 40 Jahre zum Teil auf Reisen durch Europa sowie Nord- und Südamerika entstanden sind. Seine Bilder arrangiert und plant er exakt. „Das ist wohl mein innerer Ingenieur“, meint er. Er sucht Dinge, die eine gewisse Ordnung oder Symmetrie haben. Wie die gestapelten Kisten in einer Bäckerei oder orangefarbene Kabel, die er in einer orangefarbenen Vase vor orangefarbenem Hintergrund arrangiert hat. „Bewusst oder unbewusst, es kommt immer auf Ästhetik an“, sagt er.

Für seine neueste Serie „Drowning Sky“ tauschte er den Himmel auf seinen Reisefotografien per Photoshop gegen Wasserfluten. „Die Bilder thematisieren einen Traum, der mich seit der Kindheit verfolgt und nicht loslässt. Darin werde ich von einer Flutwelle am Horizont überrascht.“ Das Ergebnis präsentierte unter anderem „designboom“, eines der größten Architektur- und Designmagazine.

Von Louis Daguerre bis Agfa

Kleiner als Erbsen sind manche Kameras heute. Sie bestehen aus winzigen, perfekt ineinandergreifenden Einzelteilen und haben neben der Momentaufnahme viele weitere Funktionen. Bis es so weit war, hat es allerdings gut 200 Jahre gedauert: Als Erfinder der Fotografie gelten die beiden Franzosen Nicéphore Niepce und Louis Daguerre. Sie hielten die ersten Fotos auf Jodsilberplatten fest. In den folgenden Epochen wurden die Fotoapparate weiterentwickelt und verbessert. Ein Meilenstein war die erste Kodak-Kamera, die im Jahr 1889 auf den Markt kam. Sie war die erste Kamera mit Rollfilm, der die Handhabung deutlich erleichterte und die Kodak NR. 1 massentauglich machte. 1936 gelang es der Firma Agfa erstmals, einen Farbfilm zu entwickeln.

Ab den 50er-Jahren etablierten sich die Spiegelreflexkameras. Elektronik und Digitalisierung revolutionierten den Kameramarkt Anfang der 2000er Jahre noch einmal und machten den Rollfilm überflüssig. Die heute als digitale Dateien gespeicherten Bilder können kostenlos dupliziert, bearbeitet und im Internet geteilt werden.

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