Kriegskinder damals und heuteTagung in Lohmar beleuchtet das Thema Flucht

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Lohmar – An einem Mittwochabend im Jahr 2012  reißt Hans Lohre das Lenkrad seines Autos auf einem Beschleunigungsstreifen der A 2 herum  und rast in den  Gegenverkehr.  Der 81-jährige Geisterfahrer stirbt, als sein Peugeot mit einem Volvo kollidiert, dessen 43-Jähriger Fahrer  schwer verletzt wird. 

Seinem Sohn Matthias wird der Unfall keine Ruhe lassen.  War er womöglich Spätfolge einer Kriegstraumatisierung? Wollte der Vater sterben? Seine eigene freudlose Kindheit beschreibt Matthias Lohre als Nebel, gesprochen wurde kaum, auch nicht mit der zehn Jahre vor dem Vater gestorbenen Mutter. Und schon gar nicht über den Krieg.

 Rund 100 aufmerksame Zuhörer hat Lohre bei der Tagung „Kriegskinder damals und heute“ mit Flüchtlingshelfern, Psychotherapeuten  und privat  Interessierten im Schloss Auel in Lohmar, wo er  aus seinem Buch „Das Erbe der Kriegsenkel“ liest.

Im Gespräch mit der Journalistin Ruth Baunach schildert Lohre, wie er nach einer Psychoanalyse und historischer Recherche den Weg zu Verzeihung und Abschied findet. Und er hat einen Rat: Wer immer die Gelegenheit hat, sollte das Gespräch mit den Eltern, den Kriegskindern von damals suchen.

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Teilnehmer der Tagung „Kriegskinder damals und heute“ in Lohmar.

Die traumatischen Erlebnisse, davon  ist er überzeugt,  werden als Belastung an die nächste Generation weitergegeben. „Transgenerationale Weitergabe“, der Fachbegriff fällt oft während dieser Tagung.

Als politischer Zeitungsredakteur und Buchautor erfolgreich, sieht sich der heute 40-Jährige Lohre als typischen Vertreter seiner Generation, mit gutem Einkommen, aber auch ohne Trennung von  Freizeit und Arbeit. Und trotz allem quälen ihn Selbstzweifel, das Gefühl, nie genug zu leisten. Er hat Existenzängste und  unerklärliche Schuldgefühle. Heute ist er sicher: Für ihn als Kind von Kriegskindern ist dieser Seelenzustand  typisch. Der hochgewachsene, sportlich wirkende Lohre stellte sein Selbstbild  als Mann in Frage und kam zu dem Schluss: „Der Workaholic ist doch nur eine Lightversion des Kriegers.“

Mit einem dichten Programm von Referaten und Workshops geht die Tagung der Aktualität von Trauma, Flucht, Vertreibung und Verfolgung nach. Es geht um biografische Schreibstuben für Kriegskinder und  therapeutische Ansätze.

Die Diplompsychologin Stella Shcherbatova, deren Eltern den Holocaust überlebt haben, schildert die Probleme von jüdischen Migranten aus den ehemaligen GUS-Staaten: In der Sowjetunion sei die Shoah kein Thema gewesen.   

Der Vorsitzenden des Kriegskinder e.V. Monika Weiß ist vor allem eine Frage wichtig: Wie können Deutsche ihre Erfahrungen mit Krieg und Traumatisierung nutzen und helfen, wenn aktuell Flüchtlinge ins Land kommen? Dass Integration im sozialen Miteinander gelingen kann, steht für sie dabei außer Frage. „Wir schaffen das“,  zitiert sie Bundeskanzlerin Angela Merkel.       

An einem  von fünf  Workshops nimmt die neunköpfige syrische Flüchtlingsfamilie Bader teil, die seit November in Overath wohnt. Das jüngste Mitglied, der  einjährige Ward, schlummert auf dem Schoß von Mutter Rana Jadian (29), die ein elegantes, schwarz-weißes Kopftuch trägt. 60 Jahre alt ist Wards Großtante Sabah Keshkeh, die auch auf Fotos an der Wand zu erkennen ist.

Die Bilder zeigen Stationen einer Flucht, staubige Landstraßen auf der Balkanroute, dicht gedrängte Menschen in einem kleinen Boot. Der Moderator, der Psychotherapeut Bertram von der Stein aus Köln, lässt dem Gespräch der 30 Teilnehmer freien Lauf. Schnell geht es um kulturelle Fragen, den Burkini, die Frage, ob deutsche Frauen arabische Männer umarmen dürfen.

„Nein, aber Hallo ist Ordnung“, antwortet der 23 Jahre alte Shekr Allah Akrayem, der mit 13 anderen Männern in einer Flüchtlingsunterkunft lebt und Informatik studieren möchte. Ihm ist gegenseitiger Respekt  besonders wichtig. 

Um  Krieg und Flucht   geht es nur in Nebensätzen, lediglich die Fotos, die Gesichter zwischen Müdigkeit, Angst und Zuversicht, lassen erahnen, dass die Familie Bader einen schweren Weg hinter sich hat. Die Hausherrin von Schloss Auel, Tatjana von la Valette, engagiert sich in der    Individuellen Flüchtlingshilfe Overath und unterhält regelmäßigen Kontakt zu den Baders.   Ihr ist der  „Zusammenhalt der Familie“ aufgefallen und ihre Herzlichkeit.

Sabah  Keshkeh habe geweint, als sie eines der in großem Format  frisch ausgedruckten Fluchtbilder gesehen habe. Rana Jadina  berichtet, dass ihre Heimatstadt zerstört sei.  20 Jahre, so schätzt sie, wird der Wiederaufbau dauern.    

 Über  Traumatisierung spricht letztlich ein Deutscher, ein älterer Teilnehmer, der schildert, wie er  in den letzen Kriegstagen aus Pommern „in den Westen kam“. Eine Willkommenskultur habe es damals für ihn nicht gegeben. „Wir wurden nicht willkommen gehießen.“ Neben ihm, dem Flüchtlingskind, habe in der Schule niemand sitzen wollen. Noch in der  Lehre habe er sich Witze über Flüchtlinge anhören müssen. Aber das Leid von damals solle man nicht gegen  das Leid von heute stellen. Wenn  heute Flüchtlinge gut in Deutschland aufgenommen würden, sei das „positiv“.

Paul-Reiner Weissenberg von der Flüchtlingshilfe Worringen hat schon in einem Referat über Höhen und Tiefen der Flüchtlingsarbeit gesprochen. Über eine hochschwangere  Frau, die nur dank der Ehrenamtler medizinisch versorgt wurde, über Kinder, die schnell Deutsch lernen und für ihre Eltern dolmetschen, und über Unpünktlichkeit bei wichtigen Amtsterminen  und  Sprachkursen.

„Die andere Sprache und Kultur zu verstehen ist wichtig, dann kommt der Rest von allein“, sagt er im Workshop. Flüchtlinge könnten sich für die neue Kultur öffnen, ohne sie gänzlich zu übernehmen. Atif  Bader bringt  eine Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Syrern auf den Punkt: Auch er  habe Angst vor den Bomben islamistischer Extremisten.

Moderator von der Stein, der ständiger Berater der Worringer Helfer ist,  ist am Ende zufrieden mit der Runde. Allerdings sei die aufgeschlossene Familie Bader, die eher in die Zukunft als in die Vergangenheit  blickt,  ein Idealfall.  Er habe auch schon eine Frau behandelt,   die sich „unter den Stühlen verkrochen“ habe, als das  Thema Krieg aufkam.

Kriegsenkel Matthias Lohre immerhin  hat es geschafft, seinen Frieden mit dem Vater zu machen. Für diesen sei Gewalt alltäglich gewesen, nicht unbedingt durch Bomben und Tiefflieger, aber in Gestalt eines prügelnden  Lehrers: „Sein Trauma war die Nazizeit. Das Gefühl, nichts wert zu sein.“ 

Der Verein „Kriegskinder – Forschung, Lehre, Therapie“  setzt sich für die wissenschaftliche Friedensarbeit ein und fördert Forschungsprojekte, die dem wissenschaftlichen interdisziplinären und internationalen Austausch dienen. Vereinssitz ist Kassel, die Geschäftsstelle im  Lohmarer Schloss Auel angesiedelt.

Die Forschung befragt die Generation der Kriegskinder nach den Langzeitfolgen psychischer Traumata. Erklärte Aufgabe ist es zudem, das Wissen um die verheerenden Langzeitfolgen des Krieges wachzuhalten. Zeitzeugeninterviews werden archiviert.Der Verein ist  an Therapien  interessiert, die bei der Behandlung an traumatisierte Menschen vermittelt werden können.

www.kriegskinder-verein.de

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