Sekte um Paul SchäferLohmarer war Zeitzeuge der Anfänge von „Colonia Dignidad“

Lesezeit 3 Minuten
Aus der Zeitung erfuhr 1966 Alfred Bergmann, was seinem Freund Wolfgang Müller – ihn zeigt das links Porträtfoto – in Heide und nach seinem Verschwinden widerfahren war.

Aus der Zeitung erfuhr 1966 Alfred Bergmann, was seinem Freund Wolfgang Müller – ihn zeigt das links Porträtfoto – in Heide und nach seinem Verschwinden widerfahren war.

Lohmar – Nein, im Kino war Alfred Bergmann am Donnerstagabend nicht. Nächste Woche aber wird er sich den Streifen „Es gibt kein zurück“ über die Colonia Dignidad wohl ansehen: Die Vorgeschichte in Heide hat der heute 69-Jährige als Zeitzeuge vor der eigenen Haustür miterlebt.

Sein Vater hatte 1956 ein Grundstück an der Franzhäuschenstraße gekauft, „ödes Land“ war das damals, erinnert sich Bergmann. Gegenüber standen ein Fachwerkhaus, außerdem ein Wochenendhaus, eine bessere Baracke. „Über Nacht war die weg“, erinnert sich Bergmann an das Jahr 1957, „das Bauloch ausgehoben“. Nachts wurde dort gearbeitet, „bei Scheinwerferlicht“, am Tag gingen die Leute ihren sonstigen Berufen nach.

Regelmäßig tauchten während der Bauzeit der Prediger Hugo Baar und „Heimleiter“ Hermann Schmidt im Geschäft von Vater Bergmann auf; Sektengründer Paul Schäfer war wohl nicht dabei. „An das Glasauge würde ich mich erinnern“, ist Alfred Bergmann überzeugt. Um Kleinigkeiten ging es bei den Besuchen im Geschäft, größere Aufträge erteilte die „Private Sociale Mission“ nicht. „Die machten ja alles selbst“, wenige Menschen anfangs, „dann wurden es mehr“. Wie auch der Raum zunahm, der zum Wohnen zur Verfügung stand.

„Ich war einer der wenigen, die das Haus von innen gesehen haben“, erzählt Bergmann; regelmäßig fuhr er mit drei oder vier der Jungs von gegenüber zur Schule nach Much, auch mit Hartmut Hopp, später als Arzt einer der führenden Köpfe der Sekte in Chile, der heute in Krefeld lebt. Besonders mit Wolfgang Müller aber knüpfte Alfred Bergmann engere Bande: Der Norddeutsche, den seine Mutter dem angeblichen Kinderheim anvertraut hatte, besuchte mit Bergmann nicht nur die Schule, sondern auch den Konfirmandenunterricht in Birk bis 1961. „Die waren mal hier, ich war mal drüben“, erzählt Bergmann von dieser Zeit; „wir haben das Schwimmbad, komm rüber“ lud der Freund manchmal ein – neben den Werkstätten und dem großen Wohnhaus verfügte die „Mission“ sogar über einen Pool. „Völkisches Gedöhns“ hat Bergmann damals nicht beobachtet, die strengen Haar-Knoten fielen ihm auf, auch die Tatsache, dass die im Ort nur als „Missionshaus“ bekannte Immobilie schon über eine Sprechanlage verfügte. „Man musste läuten, sich vorstellen“, so Bergmann, Frauen, die wie Diakonissenschwestern gekleidet waren, kontrollierten den Zugang.

Die Vorgänge hinter dem schönen Bild nach außen blieben dem jungen Alfred verborgen; „eine gewisse Bewunderung“ für das auf der anderen Straßenseite Geleistete gehegt zu haben, gibt er zu. Was dort tatsächlich geschah, erfuhr er Jahre später. „Über Nacht“ waren im Januar 1962 die verbliebenen Bewohner des Hauses verschwunden. Auch der Freund Wolfgang Müller, von dem Bergmann in der Folge nichts mehr hörte. Er wurde später zu einem Hauptzeugen der Anklage gegen Sektenchef Paul Schäfer, schon in der ersten Nacht in Heide sei er von Schäfer vergewaltigt worden, gab er nach seiner Flucht zu Protokoll. „Wie ein schwarzes Loch“ beschreibt Bergmann die Reaktion in Heide auf das Verschwinden der Sekte, wenig später schon zog die Bundeswehr in das Gebäude. Bis zu einem ersten Zeitungsartikel 1966, nach Wolfgang Müllers Flucht aus der „Colonia Dignidad“ erschienen, blieb der Freund verschwunden. „Danach wusste jeder was“, so Bergmann.

Sorgsam hat er seither Zeitungsberichte gesammelt, mit Wolfgang Müller, der heute Kneese heißt, steht er weiterhin in Kontakt. „Mitte der 80er-Jahre kam er plötzlich nach Heide, um das seiner Frau zu zeigen“; bei Bergmanns hat er damals geläutet und blieb gleich über Nacht. „Ich war damals noch Kind“, sagt Alfred Bergmann in der Rückschau; „mir kam manches toll und seltsam zugleich vor“. Heute ärgere er sich, „dass ich mich so habe täuschen lassen.“

Rundschau abonnieren