RomanfigurKleinwüchsig und Hermaphrodit – auf den Spuren des Siegburger Lottchens

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Das richtige Lottchen beim Siegburger Karneval in den 1950er Jahren.

Das richtige Lottchen beim Siegburger Karneval in den 1950er Jahren.

Siegburg – „Wie jeder, der ins Stadtmuseum geht, bin auch ich über Lottchen gestolpert“, erinnert sich Schriftstellerin Hanna Jansen.

Doch die Frage, welcher reale Mensch sich hinter der Plastik des Kölner Künstlers Thomas Aust verbirgt, ließ sie nicht mehr los. Sie sprach mit Zeitzeugen, sichtete alte Zeitungsberichte und Archivalien; und immer mehr rundete sich ein Bild über Charlotte Bertram und ihr ungewöhnliches Leben: Lottchen war kleinwüchsig und ein Hermaphrodit. Oder intersexuell, wie man heute sagen würde.

Jansen begann mit dem Schreiben, allerdings nicht an einer Biografie. Vielmehr lässt sie sich von Lottchen zu einem historischen Roman inspirieren, wobei das verbürgte Geburtsjahr Bertrams 1912 gesetzt ist.

Autorin Hanna Jansen lässt sich vom Siegburger Lottchen zu einem Roman inspirieren.

Autorin Hanna Jansen lässt sich vom Siegburger Lottchen zu einem Roman inspirieren.

Lottchen heißt im Roman Friedchen und ihr Leben ist eng mit den Schicksalen von vier fiktiven Familien verflochten. Historische Ereignisse in Siegburg hat Jansen akribisch recherchiert; im Roman bleibt die Stadt aber ohne Namen. Noch in diesem Jahr soll das Buch erscheinen, für das sich die Autorin bei Lesungen in Siegburg neue Erkenntnisse erhofft.

Jansen schildert im Roman Friedchen als Kind, das durchaus wohlbehütet aufwuchs: Als Spross eines – erdachten – Meisters in der Königlich Preußischen Geschossfabrik und der Tochter eines Gymnasiallehrers. Als der Vater nach dem Ersten Weltkrieg seine Arbeit verlor, begann er mit einem Fuhrwerk Waren auszuliefern, was mit Lottchens tatsächlichem Leben denn auch korrespondiert. Charlotte Bertram fuhr unter anderem das Essen für Schulspeisungen aus. Hänselnde Kinder, über die sich das Lottchen bei Lieferfahrten mitunter ärgerte, bekamen schon einmal einen Klaps mit der Gerte ab – das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Jansen in der Kreisstadt sammelte.

Dazu zählt auch das Gerücht, dass Lottchen gern in der Kneipe ein Kölsch trank und ihr andere Gäste einen ausgaben – allerdings sollte sie dann später „ihr Geheimnis“ entblößen. „Aber das hat Lottchen angeblich nie gemacht“, so Jansen. Ihr begegne in diesen Geschichten ein starker Mensch, der trotz solcher Zoten in einem wohlwollenden Umfeld lebte. Und offenkundig überlebte das Lottchen ja die NS-Zeit, in der viele „Liliputaner“ und Menschen mit Behinderung verschleppt, Opfer sadistischer Experimente und ermordet wurden. Erdacht hat Jansen etwa ausführlich geschilderte Kinobesuche in der Stadt, Freundschaften zu Nachbarskindern oder auch eine ärztliche Untersuchung, bei der ein Arzt die Intersexualität Friedchens diagnostiziert. Auch die Begeisterung der Heranwachsenden für die Nibelungensaga ist Fiktion. Die genauen Umstände um Friedchens Tod lässt Jansen offen. Im reellen Siegburg erzählt man sich allerdings, dass Lottchen 1971 beim Brand eines Bootschuppens am Trerichsweiher ums Leben kam. Wichtiger als solche Details ist es Jansen jedoch, den Alltag ihres Friedchens zu schildern. „Sich dem fremden Anderen zu nähern, ist mir wichtig“, betont sie, auch in anderen ihrer Bücher. Ihr Roman „Über tausend Hügel wandere ich mit Dir“ über ein Mädchenschicksal im ruandischen Bürgerkrieg wurde 2002 als bestes Jugendbuch mit dem Buxtehuder Bullen ausgezeichnet und erhielt in der Übersetzung mehrere Preise in den USA.

Um neue Erkenntnisse für ihren entstehenden Roman und über die Protagonistin Friedchen zu gewinnen, geht die Autorin ungewöhnliche Wege und bindet ihr Publikum bei Workshops ein: Mit einer ersten Lesung in der Bernstein Verlagsbuchhandlung der Gebrüder Remmel an der Holzgasse stellte sie bereits den Abschnitt „Frühe Kindheit vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen vor“. Am 7. Juli folgt „Jugend während der 20er Jahre und im Übergang zum Dritten Reich“ sowie am 6. Oktober „Überleben unter der Herrschaft des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg“. Beginn ist jeweils um 20 Uhr. Der Roman erscheint Ende des Jahres im Bernstein-Verlag.

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