Engpass bei MedikamentenEuropa gehen die Pillen aus

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Pillen

Symbolbild

 Irgendein Betriebsunfall. Ende 2016 hat es in einer Werkshalle gebrannt. Weit weg, in China. Was geht uns das an? Sehr viel. Dieser spezielle Brand jedenfalls. In dieser Halle befand sich die Produktionsstätte von Wirkstoffen für das Breitbandantibiotikum Pieracillin/Tazibactam. Das Mittel ist für viele Patienten lebenswichtig. Es wird in der Krebsbehandlung bei Menschen mit schlechtem Immunsystem eingesetzt. Das Problem: Das betroffene Werk ist weltweit eine von nur zwei relevanten Produktionsstätten für das Antibiotikum. Das Ergebnis sind weltweite Lieferengpässe. Auch in deutschen Kliniken mussten vor Weihnachten eilends Notfallstrategien erdacht werden.

Das ist kein Einzelfall. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) in Bonn stellt nüchtern fest: "Obwohl in Deutschland über 100 000 Arzneimittel verkehrsfähig sind, mehren sich seit ein paar Jahren die Fälle, in denen eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung nicht mehr gewährleistet ist, weil zugelassene Arzneimittel nicht oder nicht mehr in der erforderlichen Menge verfügbar sind." Das Bfarm erstellt regelmäßig eine Liste mit Medikamenten, bei denen es zu Engpässen kommt. Aufgenommen werden verschreibungspflichtige Arzneimittel, die "überwiegend zur Behandlung lebensbedrohlicher oder schwerwiegender Erkrankungen bestimmt sind und für die keine Alternativpräparate verfügbar sind". Die Liste umfasst zurzeit 23 Arzneimittel. Die Gründe für die Probleme bei der Versorgung sind vielschichtig. Sie liegen vor allem in der Veränderung des Pharma-Marktes.

Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Er nennt als wichtigste Ursache "die Verlagerung der Produktionsstätten in Länder wie China oder Indien bei gleichzeitiger Abnahme der Herstellerzahl, häufig auf zwei oder drei." Er nennt das "eine fatale Entwicklung". Ulrike Holzgrabe, Professorin für Pharmazeutische Chemie in Würzburg, beschreibt den rasanten Wandel so: "Während in den 90er Jahren 80 Prozent aller Wirkstoffe und Hilfsstoffe in Europa und den USA produziert wurden, werden heute nahezu alle Ausgangsstoffe zur Herstellung von Arzneimitteln in China und Indien hergestellt." Dies gelte nicht nur für die einzelnen Stoffe, sondern auch "für Zwischenprodukte bis hin zu Fertigprodukten. Mit anderen Worten: die Abhängigkeit ist total.

Auch Trivialsubstanzen kommen aus China

Der Bonner Pharmakologe Harald Schweim erklärt, dass diese Abhängigkeit keineswegs nur Antibiotika betrifft. "Auch Trivialsubstanzen wie Blutdrucksenker, Betablocker oder Antidiabetes-Mittel kommen heute überwiegend aus China." Das ist nicht nur medizinisch heikel, sondern auch politisch. Ulrike Holzgrabe sagt: "Wenn die uns den Krieg erklären wollen, brauchen sie keine Waffen. Sie drehen den Medizinhahn zu." Harald Schweim weist auf eine Rechnung hin, die in der Branche für den Fall der Fälle kursiere. Man gehe davon aus, dass in den ersten drei Monaten noch nichts passieren würde, wenn die Lieferungen aus China völlig zum Erliegen kämen. Aber nach weiteren drei Monaten würden in Europa bis zu 300 000 Patienten sterben.

Da die Probleme nicht kurzfristig lösbar sind, konzentriert sich die Politik auf kleinere Maßnahmen. Das Gesundheitsministerium hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der unter anderem Klinik-Apotheken eine Vorratsbestellung ermöglicht. Die Koalition ringt darum, ob die Pharmafirmen Lieferengpässe künftig an das Bfarm melden müssen. Die Experten sehen aber durchaus sorgenvoll in die Zukunft. Schweim sagt, dass "Versorgungsengpässe bei wichtigen Medikamenten langfristig zur Normalität für Patienten in Deutschland gehören werden".

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