„Legt das Schießzeug weg und kommt rein“

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Fritz Vincken, Jahrgang 1932, erlebte Weihnachten 1944 als Zwölfjähriger. Bis 1956 lebte er in Aachen. Er starb am 7. Dezember 2001 in Oregon, USA. Aus seiner Feder, geschrieben aus der Sicht eines Jungen, stammt folgender Bericht:

EIFELLAND. Winter 1944 / 45. Die Front im deutsch-belgischen Grenzgebiet versteifte sich. Hitler wagte die Ardennen-Offensive. Wir lebten noch in unserer Kate, eingeschneit, ohne Verbindung zur Außenwelt. Unsere Behausung hatte einen gemauerten Ofen, auf dem sich kochen ließ. Grundnahrungsmittel hatten wir. Kartoffeln besorgte ich aus einer Vorratsmiete im Tal. Dort stieß ich in einem verlassenen Gehöft auf einen hungrigen Hahn, der mir folgte. Er räumte unter unseren Haferflocken auf und nahm sichtlich zu. Mit seinem Gewicht steigerte sich sein Krähen, wir befürchteten, dass er auf uns aufmerksam machen könnte. Vor Weihnachten brachte ihn Mutter zum Schweigen: Er landete im Suppentopf.

Am 24. Dezember 1944 schien die Sonne, dennoch war es bitterkalt. Den ganzen Tag hörten wir das Dröhnen alliierter Kampfflugzeuge. Mutter sagte vor sich hin: „Wo mag Vater jetzt sein? Was ist aus ihm geworden?“ Im Halbdunkel dachte ich daran, wie schön es früher immer an Weihnachten gewesen war.

Da klopfte es an unsere Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen, Mutter blies die Kerze aus. Es klopfte erneut. Wir fassten uns ein Herz und öffneten. Draußen standen zwei Erschöpfte, ein dritter saß im Schnee, mehr tot als lebendig. Wir begriffen, dass diese bewaffneten Männer amerikanische Soldaten waren. Halb erfroren standen sie da, baten mit den Augen um Einlass. „Kommt rein“, sagte meine Mutter. Keiner von ihnen verstand Deutsch, als es einer mit Französisch versuchte, konnte er sich verständlich machen.

An unserem Ofen wich bald die Kälte von ihnen, mit der Wärme stellten sich auch die Lebensgeister ein. Wir erfuhren, dass der dunkelhaarige Bursche Jim, sein Kamerad Ralph und der Verwundete Harry hießen. Sie hatten ihre Einheit verloren, waren seit Tagen umhergeirrt. Bald füllte Mutters Suppe die Stube mit einladendem Duft.

Da klopfte es erneut. In der Erwartung, noch mehr versprengte Amerikaner vorzufinden, öffnete ich. Ja, es waren Soldaten, vier Mann, alle bis an die Zähne bewaffnet. Soldaten der Wehrmacht. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Mutters Gesicht konnte ich nicht sehen, doch ihre gefasste Stimme beruhigte mich. „Sie bringen aber eine eisige Kälte mit sich, meine Herren. Möchten Sie mit uns essen?“ Damit schien sie den richtigen Ton getroffen zu haben. Die Soldaten grüßten und waren froh, zwischen den Fronten Landsleuten zu begegnen. „Sie können eine gute, heiße Suppe mit uns essen. Aber“, fügte sie in aus schierer Angst erwachsendem Todesmut hinzu, „es sind bereits drei Halberfrorene hier. Von denen droht keine Gefahr. Machen Sie jetzt um Himmels willen keinen Krawall. Ich bitte Sie!“ Der Unteroffizier begriff. „Amis?“ Darauf sah Mutter jeden an. „Hört mal“, sagte sie, „ihr könntet meine Söhne sein und die da drinnen auch. Es ist Heiligabend und hier wird nicht geschossen!“

Für einige Sekunden hörte man nur den Wind. Ich stand da und schlotterte. „Kommt, Jungens“, sagte Mutter entschlossen, „legt das Schießzeug da in den Verschlag und kommt schnell rein, sonst essen die anderen alles auf.“ Wortlos legten sie die Waffen in den Schuppen.

Es war den Amerikanern nicht verborgen geblieben, dass „Krauts“ draußen standen. Doch bald erkannte ich, dass auch sie mit sich reden ließen. Alle schienen etwas ratlos. Es lag Spannung in der Luft. Mutter machte sich wieder ans Kochen. Nun hatten wir vier Esser mehr, und unser Hahn wurde nicht größer.

Einer der Deutschen schaute sich die Wunde des Amerikaners an. Dann erklärte er in recht fließendem Englisch, die Wunde sei nicht entzündet. „Er hat sehr viel Blut verloren. Er braucht Ruhe und kräftiges Essen“, sagte er. Die Spannung hatte sich gelöst.

Der Unteroffizier nahm aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein, ein anderer brachte ein großes Kommissbrot auf den Tisch, das Mutter in Scheiben schnitt. Bald flackerten Kerzen auf dem Tisch, dazwischen stand der Kessel mit der dampfenden Suppe, auf einem Teller lag das Brot, jeder hatte etwas Wein. Erwartungsvoll richteten sich alle Blicke auf Mutter. Es stellte sich eine gehobene, fast festliche Stimmung ein. Und dann geschah, was zuvor unmöglich erschien. Ralph fasste die Hände der neben ihm Sitzenden, Jim tat das gleiche, und schon saßen wir nach amerikanischer Sitte die Hände haltend um den Tisch, um unser aller Herrgott zu danken. Mutter sprach und schloss mit den Worten: „...und bitte, mach endlich Schluss mit diesem Krieg.“ Als ich mich in der Runde umsah, bemerkte ich einige Tränen in den Augen der Krieger. Niemand schämte sich. Alle hatten ihre Menschlichkeit bewahrt.

Nach dem Essen gab es amerikanischen Nescafé und Ananaspudding, den Jim in kleinen grünen Dosen aus seiner Manteltasche holte. Schließlich wurden Zigaretten ausgetauscht, hier „Eckstein“, dort „Chesterfield“. Draußen war eine vor Kälte klirrende Nacht. Mutter forderte uns auf, den hellsten Stern, den Sirius, anzusehen. „Das ist unser Stern von Bethlehem, der kündigt den Frieden an.“ Wir gingen schlafen.

Harry war bei Tagesanbruch kräftiger. Zum Frühstück aß er mit uns den Rest der Suppe. Dann wurde aus unserer Leiter mit Hilfe einer deutschen Zeltbahn eine Trage für Harry gemacht. Der deutsche Unteroffizier zeigte Jim und Ralph den Weg zu den amerikanischen Linien. Ein deutscher Kompass wechselte den Besitzer. „Passt auf, wo Ihr geht. Viele Wege sind vermint.“ Dann langte man wieder zu den Waffen, es folgte der Abschied. Herzlicher hätte er unter alten Freunden nicht sein können. Deutsche und Amerikaner umarmten sich und man versprach, sich wieder zu sehen. Mutter und ich schauten ihnen nach, bis sie im Wald verschwanden.

Der Berichtstammt aus „Der Krieg, der nicht sterben wollte“ von Richard Matthias Müller, herausgegeben vom Geschichtsverein Monschauer Land, University Verlag, ISBN 3-8004-1432-5.

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