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„Möchte keine Lehrerschwemme“Schulministerin Gebauer über Inklusion und G8/G9

Lesezeit 7 Minuten
Schulen in NRW

1000 Leh­rer­stel­len konnten an den Grund­schu­len in NRW nicht besetzt werden.

Inklusion, Lehrermangel, Rückkehr zu G9 - Schulen in NRW sind mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Seit Juni 2017 kümmert sich Schul- und Bildungsministerin Yonne Gebauer (FDP) um ihre Belange. Mit ihr sprachen Helge Matthiesen, Lisa Inhoffen, Jörg Manhold, Sandro Schmidt und Katharina Weber.

Frau Gebauer, Sie sind die erste NRW-Schulministerin seit den 1960er Jahren, die vorher keinen Lehrberuf ausgeübt hat. Wie erleben Sie das?

Ich mache Bildungspolitik seit 13 Jahren. Ich glaube, dass ich aufgrund der langjährigen Zugehörigkeit zum Thema Bildung genug Erfahrung mitbringe. Manchmal ist der Blick von außen auch ganz hilfreich.

Wird Ihnen vorgehalten, dass ihnen der "Stallgeruch" fehlt?

Überhaupt nicht. Eher wird mir Pragmatismus nachgesagt: mal jemand, der nicht die Scheuklappen aufhat und in neue Richtungen denkt.

Wo sehen Sie die größten Baustellen im Schulbetrieb?

Die Inklusion ist keine Baustelle, aber eine große Herausforderung für die Schulen in NRW. Sicherlich auch die Themen Integration und Mi-gration. Wir haben knapp 90.000 Kinder in der Deutschförderung, der größte Teil davon ist 2015 und 2016 zu uns gekommen. Sie sind damals auf alle Schulformen verteilt worden, weil es so viele waren. Jetzt besteht die Herausforderung darin, wie wir mit diesen Kindern nach zwei Jahren umgehen, wenn sie die Vorbereitungsklassen verlassen.

Die alte Landesregierung hat den Abbau von Förderschulen beschlossen. Sie haben das gestoppt. Planen Sie, Förderschulen wiederzueröffnen?

Das Ziel der Landesregierung war und ist es, Förderschulschließungen zu verhindern. Dafür haben wir die Mindestgrößenverordnung bis 2019 ausgesetzt und erarbeiten derzeit eine praktikable moderne neue Verordnung. Eine Untergrenze muss es für Schulen geben, weil es eine Mindestzahl an Schülern braucht, um eine Schule sinnvoll betreiben zu können. Ich möchte ein flächendeckendes Förderschulangebot aufrechterhalten. Noch gibt es zu viele weiße Flecken auf der Karte von NRW. Um diese zu verkleinern, planen wir Förderschulgruppen an Regelschulen zu etablieren, wenn es in der Umgebung keine Förderschulen mehr gibt und auch keine eröffnet werden sollen. Letzteres entscheiden ja die Kommunen.

Das Konzept, alle in der Regelschule zu unterrichten, ist also gescheitert?

Inklusion ist ein Menschenrecht und wir werden den eingeschlagenen Weg weitergehen. Aber es muss dennoch dringend umgesteuert werden in Bezug auf das Tempo und die Qualität. Wir brauchen ein flächendeckendes Förderschulangebot, weil es immer Kinder geben wird, die diesen geschützten Raum brauchen.

Schrumpft die Akzeptanz der Inklusion an den Regelschulen durch die Idee der Förderschulgruppen?

Ich hoffe, dass sie dadurch steigt. Die Akzeptanz hat zuletzt sehr gelitten, weil von der Vorgängerregierung ein ideologisches Konzept übergestülpt worden ist, von dem alle Beteiligten im Vorfeld bereits gesagt haben, dass so Inklusion nicht funktionieren kann.

Was wird gegen den Mangel an sonderpädagogischem Personal unternommen?

Wir reformieren die berufsbegleitende Fortbildung VOBASOF. Wir haben mit dem Wissenschaftsministerium vereinbart, dass es 250 neue Studienplätze für das Lehramt Sonderpädagogik geben soll. Die Hochschulen beschließen gerade, wo welche Angebote gemacht werden. Aber wir gehen auch den Weg der Unterstützung durch multiprofessionelle Teams. Darin sind beispielsweise Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter. Hierfür haben wir im Haushalt 2018 zusätzlich 330 Stellen geschaffen.

250 klingt wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie viele werden denn tatsächlich gebraucht?

Wir sind erst einmal dankbar, dass es gelungen ist, diese Studienplätze zu schaffen. Natürlich wäre ich glücklich darüber, wenn die Hochschulen weitere Plätze einrichten könnten. Generell möchte ich aber auch keine neue Lehrerschwemme produzieren, deswegen haben wir eine Lehrerbedarfsprognose erstellt, die diese Woche vorgestellt wird. Die letzte war von 2011.

Geld spielt in vielen Bereichen eine Rolle, auch was Gebäude und Räumlichkeiten angeht. Gibt es Hoffnung, dass Ihr Etat deutlich aufgestockt wird?

Ich bin beim letzten Mal schon ordentlich bedacht worden. Der Haushalt des Schulministeriums beträgt über 18 Milliarden Euro. Gleichwohl habe ich natürlich mehr Ideen im Kopf als ich derzeit Gelder zur Verfügung habe. Das Land wird die Kosten der Kommunen, die unzweifelhaft durch die Umstellung auf G9 entstehen, tragen. Diese entstehen zum Beispiel durch den zusätzlichen Raumbedarf. Köln und Düsseldorf brauchen beispielsweise beide um die 150 neue Klassenräume. Wir haben ein Prognosegutachten in Auftrag gegeben, das ermitteln soll, wie hoch die Kosten der Kommunen sein werden.

Die Bauträger der Schulen sind die Kommunen. Wie werden Sie diese unterstützen?

Ich habe gleich zu Beginn gesagt, dass mit der Umstellung zu G9 natürlich Kosten entstehen werden und dass das Land durch seine Leitentscheidung diese Kosten auch zu tragen hat.

Zu Hundert Prozent der anfallenden Kosten?

Das Land wird die Kosten tragen, die wir durch unsere Leitentscheidung verursachen. Dazu warten wir jetzt einmal das Gutachten ab. Es gibt auch Faktoren, die nicht in der Verantwortung des Landes liegen, falsche Prognosen der Geburtenzahlen, zum Beispiel, oder die starke Zuwanderung der letzten Jahre.

Haben Sie mit der klaren Entscheidung der Schulen für G9 gerechnet?

Ja. Ich habe immer gesagt, dass es sich ähnlich entwickeln wird wie in Hessen. Dort sind über 90 Prozent zu G9 zurückgekehrt.

Ist G8 ein Auslaufmodell?

Nein, die Schulen, die G8 unter schwierigen Bedingungen bestmöglich umgesetzt haben, will ich nicht bestrafen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, entsprechend weiterzuarbeiten. Dazu wird es ein unkompliziertes Verfahren geben. Die Schulkonferenzen werden nach den Sommerferien diese Entscheidung treffen können.

Werden G9-Schulen Profilklassen einrichten können?

An diesem Konstrukt arbeiten wir, damit G8 in G9 möglich sein wird. Wir nennen das Konzept "Gruppenspringen", damit leistungsstarke Schülerinnen und Schüler auch an einem 9-jährigen Gymnasium in acht Jahren zum Abitur kommen können

In Rheinland-Pfalz werden G8-Gymnasien massiv gefördert. Wäre das ein Modell für NRW?

Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die G8-Gymnasien gut unterstützen wollen. Dazu brauchen wir Personal, Ressourcen und weitergehende Unterstützung.

Sie setzen teilweise schon Gymnasiallehrer an Grundschulen ein.

Wir haben die kuriose Situation, dass wir in der Grundschule 1000 Stellen nicht besetzen konnten, aber in der Sekundarstufe II einen großen Überbedarf haben. 2400 Lehramtsanwärter der Oberstufe habe ich deshalb angeschrieben, ob sie sich vorstellen könnten, zwei Jahre an der Grundschule zu unterrichten, um dem Mangel zu begegnen. Im Gegenzug garantieren wir ihnen, im Anschluss einen Platz an einer weiterführenden Schule zu bekommen. Über 170 Bewerbungen hatten wir, knapp 80 Verträge haben wir bis jetzt in diesem laufenden Verfahren abgeschlossen.

G8/G9 steht symbolisch dafür, wie sehr in den Schulen experimentiert wird. Welche Ideen haben Sie, damit in ein paar Jahren nicht wieder alles umgestellt wird?

Mein oberstes Ziel ist es, Ruhe in die Schulen zu bringen. Trotzdem muss man sich mit den Haupt- und Sekundarschulen befassen. Viele Hauptschulen sind durch die Kommunen auslaufend gestellt, an vielen Sekundarschulen sind die Anmeldezahlen nicht ausreichend. Hier müssen wir eine Debatte in den nächsten Monaten führen.

Wird ein Rechtsanspruch für Grundschulkinder auf einen OGS-Platz kommen? Was spricht dagegen, einen gebundenen Ganztag einzuführen?

Bei den Ganztags-Plänen der großen Koalition wurde viel versprochen, doch bisher tappen Länder und Kommunen in völliger Dunkelheit. Zwei Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode, ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung bis 2025 sind die Rahmendaten, aber alle anderen Fragen sind offen. Ich werde daher schnellstmöglich mit der zuständigen Bundesfamilienministerin Franziska Giffey Kontakt aufnehmen, um dieses Vorhaben im Detail zu erörtern.

Zur Person

Yvonne Gebauer trat mit 16 Jahren in die FDP ein. Als Mitglied des Kölner Stadtrats war sie von 2004 bis 2012 bil­dungs­po­li­ti­sche Spre­che­rin der FDP-​Rats­frak­tion. Ab­ge­ord­nete des NRW-​Land­tags ist sie seit dem 31. Mai 2012. Fünf Jahre lang fungierte sie danach als Spre­che­rin für Schule und Wei­ter­bil­dung der FDP-​Land­tags­frak­tion. Sie ist ver­hei­ra­tet und hat ein Kind. In ihrer Freizeit geht sie gerne mit ihren beiden Hunden spa­zie­ren, liest oder bekocht gute Freunde. (wkh)

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