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Vor 50 Jahren in BonnZehntausende protestierten gegen Notstandsgesetze

Lesezeit 7 Minuten
Zehntausende Menschen demonstrierten am 11. Mai 1968 im Hofgarten gegen die Notstandsgesetze.

Zehntausende Menschen demonstrierten am 11. Mai 1968 im Hofgarten gegen die Notstandsgesetze.

BONN – Der 11. Mai 1968 begann wolkenverhangen. Es war ein Samstag, und er sollte zu einem der ereignisreichsten Tage der bundesdeutschen Geschichte werden. Der Bundestag stand vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze, die der Regierung in Krisenzeiten besondere Befugnisse, auch auf Kosten von Grundrechten, geben sollten.

Die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament war vorhanden, da CDU/CSU und SPD seit 1966 in einer Großen Koalition verbunden waren. Doch dem stand eine breite Außerparlamentarische Opposition (APO) gegenüber: Studenten, Schüler, Gewerkschaften, Linksliberale und Intellektuelle – sie alle waren gegen die Notstandsgesetze. Bevor sich der Bundestag in Bonn am 15. Mai zur zweiten Lesung der Gesetzesvorlage traf, fand vier Tage vorher in der Bundeshauptstadt eine Großdemonstration statt, organisiert vom „Kuratorium Notstand der Demokratie“. Tausende von Teilnehmern sollten kommen, mit Spannung erwartet von der Bevölkerung und von der Polizei.

Wochen der Unruhe

Die Wochen zuvor waren schon unruhig gewesen. Im Februar drangen Studenten ins Rektorat der Universität ein und forderten, Bundespräsident Heinrich Lübke aus der Liste der Ehrensenatoren der Hochschule zu streichen. Lübke wurde damals vorgeworfen, er habe als Mitarbeiter eines Architektenbüros Baupläne für KZ-Baracken abgezeichnet. Der Rektor stellte Strafanzeige gegen die Eindringlinge, die Staatsanwaltschaft ermittelte, schnell war auf Demos von „Polizeiterror“ die Rede.

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Am 11. April 1968, Gründonnerstag, war der Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin bei einem Attentat schwer verletzt worden. Bonner kannten ihn nicht nur aus den Zeitungen: Dutschke war zum „Anti-Dies“ am 6. Dezember 1967 in die Uni gekommen, wo er sich im Treppenhaus vor der Aula ein langes Rededuell mit dem Vorsitzenden des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), dem späteren Bonner CDU-Landtagsabgeordneten Jürgen Rosorius, lieferte.

Nach dem Anschlag auf Dutschke gab es Demonstrationen auch in Bonn, am 16. April marschierten 1000 Studenten durch die Innenstadt. Kommentar eines Bürgers, abgedruckt in der Bonner Rundschau: „Schickt die Kerle ins Arbeitshaus!“

Tausende Polizisten im Einsatz

Nun also der 11. Mai. Die Polizei rüstete sich mit 4000 Beamten für den Tag, mehrere Wasserwerfer standen für den Fall von Ausschreitungen bereit. Offiziell leitete NRW-Innenminister Willi Weyer (FDP) den Polizeieinsatz, operativer Leiter aber war Polizeioberrat Tonis Hunold, ein Mann der Basis, früher Chef der „Weißen Mäuse“, der Motorradeskorte der Polizei. Er entschied kurzerhand, dass der Plan, die Veranstaltung auf dem engen Marktplatz enden zu lassen, angesichts der erwarteten Menschenmassen zu einer Katastrophe führen könnte und setzte den Hofgarten durch.

Um 7.53 Uhr traf der Sonderzug D 01211 der DDR-Reichsbahn aus Berlin ein, zwischen 800 und 1100 Anhänger der APO an Bord, die auf dem für Westdeutsche zugänglichen Teil des Ost-Berliner Bahnhofs Friedrichstraße verbilligte DDR-Fahrkarten gekauft hatten. Vor dem Hauptbahnhof Bonn formierte sich Gegenprotest: „1100 dürfen – 17 Millionen dürfen nicht“ – ein Hinweis, dass DDR-Bürgern die Ausreise verwehrt war.

Mit Sonderzügen der Rheinuferbahn kamen 3000 Kölner Ford-Arbeiter in die Nachbarstadt, aus Hannover zuckelten ein paar Protestler im geliehenen Chevrolet ihres Professors an den Rhein, in Mainz stiegen 800 Jugendliche „in Gammelkluft“, so ein Zeitzeuge, in Busse. „Wir kommen alle aus dem Osten, Mao zahlt die Reisekosten“, wurde skandiert.

Blonde Frauen für die Deeskalation

Von drei Sammelplätzen aus formierte sich der Marsch zum Hofgarten. Vor einem Wald von roten Fahnen gingen Verkehrspolizisten in weißen Uniformen; niemand sollte durch martialische Kleidung der Ordnungshüter provoziert werden. Solche Deeskalationskonzepte hat die Bonner Polizei später wiederholt angewendet, Polizeipräsident Michael Kniesel etwa ließ blonde Polizistinnen ohne Helm vor Demonstranten laufen. Wer mochte gegen junge Frauen Gewalt anwenden?

Die meisten Bonner blieben an diesem Samstag Zuhause. Die Junge Union hatte tags zuvor „an alle Haushaltungen“ Flugblätter verteilt: „Wer morgen aufpaßt . . . schützt seine Fenster . . . hält sich und seine Kinder von dieser Demonstration fern.“ Ein Original dieser Hauswurfsendung ist in einer kleinen Ausstellung im Universitätsmuseum zu sehen (siehe Kasten). Die wenigen Zuschauer am Marschweg begrüßten die Demonstranten mit Rufen wie „De Zuch kütt“ und „Kamelle!“. Vier Protestler wurden argwöhnisch beäugt, als sie mit einer roten Fahne die Rolltreppe im Kaufhof hinauffuhren: Oh, hat die Revolte etwa schon das Warenhaus erreicht? Nein, die jungen Leute hatten Hunger und fragten nach dem Restaurant.

Böll als Hauptredner

Auf dem Hofgarten trafen sich die Kolonnen. Wie viele Teilnehmer es waren, ist unklar. Die Veranstalter sprachen von 70 000, Uni-Archivar Thomas Becker nennt 40 000, Horst-Pierre Bothien vom Bonner Stadtmuseum 50 000, Zeitungen berichteten damals von 60 000, die Polizei von 25 000. Die Bonner Rundschau schrieb in ihrer Montagsausgabe vom 13. Mai: „Sozialistische, sozialdemokratische oder liberale Studenten, Altkommunisten und ehemalige KZ-Insassen . . . und eine Handvoll ideologisch Versprengter – sie fanden sich an diesem Samstag . . . im gemeinsamen ,Nein’ zu den Notstandsgesetzen“.

Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll war einer der Hauptredner. Sein Manuskript, fein säuberlich getippt mit der Schreibmaschine, liegt in einer Vitrine im Unimuseum. Böll sagte an die Adresse der mit der Union koalierenden SPD einen Satz, der angesichts der heutigen Lage dieser Partei wieder aktuell ist: „Ob nicht die Ablehnung dieser Gesetzesvorlage für die SPD die letzte Chance ist, die tödliche Umarmung loszuwerden und sich bis zur nächsten Wahl zu erneuern?“

„Himmelspolizei“ schickte Regen

Längst hatte penetranter Regen eingesetzt, als sich die Kundgebung auflöste. Am Abend traf sich der harte Kern der Demonstranten zu einem „Teach-in“ in der Beethovenhalle, in der sich 4000 Besucher drängten. Die Luft war dick vom Zigarettenqualm und den Ausdünstungen nasser Klamotten, ermüdete Revoluzzer schliefen, die eingerollte rote Fahne als Kopfkissen, auf dem Boden, als Hannes Heer, der Bonner Studentenführer und spätere Organisator der Wehrmachts-Ausstellung, das Wort ergriff. Er war gerade vom Mai-Aufstand in Paris gekommen und schlug vor, zur französischen Botschaft zu gehen und dort eine Solidaritätsadresse für die Pariser Kommilitonen abzugeben.

Nach fast zweistündigem Marsch nach Bad Godesberg kamen gegen 0.30 Uhr etwas mehr als 250 Studenten müde und durchnässt an der diplomatischen Vertretung an, in der sich nur noch der Hausmeister und der Verwaltungsdirektor befanden. Eine Eskalation blieb aus. Warum? Polizeiführer Hunold zeigte nach oben: „Zur Schupo und Kripo kam die Hipo – die Himmelspolizei“, die ließ es regnen.

Der Bundestag verabschiedete die Notstandsgesetze am 30. Mai. Doch die Proteste gingen weiter. Zur 150-Jahr-Feier der Uni am 10. Juli 1968 spitzte sich die Lage zu, Ehrengäste wurde am Betreten des Festsaals gehindert, zwischen Hannes Heer und Unikanzler Freiherr von Medem kam es zu einer Rangelei, die Saaltür wurde aufgebrochen, Polizei rückte an, „es liegt was in der Luft“, schrieb ein Student in seinen Aufzeichnungen jener Nacht.

In der Tat, der Beat lag in der Luft. Denn nebenan, im Arkadenhof, fand das Uni-Sommerfest statt. „Hier verläuft sich dann die Revolution“, heißt es in dem Zeitzeugenbericht weiter. „Viele dunkle Gänge, es wird überall bös gefummelt.“ Der Autor war wohl ein Kinogänger, denn das „Fummel“-Zitat stammt aus dem Film „Zur Sache Schätzchen“ mit Uschi Glas, der im Januar 1968 Premiere hatte. Auch das Ende der Fete ist filmreif: „Begeistertes Stampfen, Letkiss, La Bostella (damalige Modetänze, d. Red.) – die Revolution, die wenige Meter von hier entfernt tagte, ist längst vergessen. Es lebe der Beat.“

Zwei Ausstellungen

Eine Ausstellung im Bonner Universitätsmuseum, Regina-Pacis-Weg 1, erinnert mit Blick auf den historischen Ort der Bonner Proteste an dieses Schlüsselereignis der „68er-Zeit“ und bezieht mit ein, dass gleichzeitig Unruhen an der Pariser Sorbonne ausbrachen. Drei Studierende der Uni Bonn, Joshua Fuchs, Florian Weck und Kerstin Wolff, haben die Ausstellung zusammengestellt. Sie ist bis zum 17. Juni zu besichtigen. Acht Tischvitrinen, Karikaturen, Fotografien und Original-Flugblätter werden gezeigt. Öffnungszeiten: mittwochs bis sonntags 12 bis 16.30 Uhr.

Das Stadtmuseum in der Franziskanerstraße 9 erinnert ebenfalls an die Studentenproteste: „50 Jahre Studentenrebellion – eine Bonner Chronik“ heißt die von Horst-Pierre Bothien kuratierte Ausstellung, die bis 3. Juni dauert und Fotos und Dokumente zeigt. Die Öffnungszeiten: mittwochs 9.30 bis 14 Uhr, donnerstags bis samstags 13 bis 18 Uhr, sonntags 11.30 Uhr bis 17 Uhr.

Quellen für den Artikel: Zeitungsarchive, Universitätsarchiv, Horst-Pierre Bothien: „Protest und Provokation“, Klartext-Verlag. (dbr)

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