„Auch ein Freispruch belastet“Siegburger Richter über den Umgang mit Straftätern

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„Das lachende Fallbeil“ wird Richter Ulrich Wilbrand gern von seinen Kollegen genannt. Ihm ist es wichtig, dass in einer Verhandlung jeder zu Wort kommt und dann ein gerechtes Urteil ergeht.

„Das lachende Fallbeil“ wird Richter Ulrich Wilbrand gern von seinen Kollegen genannt. Ihm ist es wichtig, dass in einer Verhandlung jeder zu Wort kommt und dann ein gerechtes Urteil ergeht.

Siegburg – Einen Strafrichter stellt man sich anders vor, strenger, ernster. Ulrich Wilbrands Markenzeichen ist die Freundlichkeit. Er führt seine Verhandlungen wortreich, fragt die Angeklagten, wie sie sich ihr Leben vorstellen; mahnt die Delinquenten aber auch: „Das muss ein Ende haben.“ Wir sprachen mit dem 56-Jährigen über die Schwierigkeit, zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Sie werden von Kollegen auch das „lachende Fallbeil“ genannt. Ehrt oder ärgert Sie das?

Die Art der Verhandlung kann konfrontativ sein, dann vergibt man sich aber Spielräume. Mir ist es wichtig, dass jeder zu Wort kommt, dass man sich nicht anbrüllt. Das schafft eine Atmosphäre, um über die Tat zu sprechen. Wir wollen zwar kein Verständnis aufbringen, uns aber die Motivation vor Augen führen, um am Ende ein gerechtes Urteil zu finden. (Zwischendurch klingelt das Telefon. Wilbrand schaltet blitzschnell um, vereinbart einen Termin, nimmt den Faden ohne Mühe wieder auf. Erzählt von einem Mann, der Cannabis anbaute, als Schmerzmittel für seine schwer kranke Frau. Er habe ihn freigesprochen.)

Haben Sie nicht die Befürchtung, dass die Straftäter Sie nicht ernst nehmen?

Richter am Schöffengericht

Höhere Weihen oder eine Karriere in der Wirtschaft haben den Volljuristen Ulrich Wilbrand in seiner fast 30-jährigen Karriere nie gereizt. Nach Start am Landgericht und Amtsgericht Bonn wechselte er wunschgemäß zur Siegburger Strafabteilung.

Dort ist der 56-Jährige Vorsitzender Richter am Schöffengericht, zugleich fungiert er als Haftrichter. Mit etwa einer halben Stelle kümmert sich Wilbrand um Betreuungssachen.

Außerdem engagiert sich der Rheinländer Ulrich Wilbrand – er ist verheiratet, wohnhaft in Troisdorf, Enkel eines früheren Siegburger Sparkassendirektors, leidenschaftlicher Fan des 1. FC Köln und gläubiger Katholik – auch ehrenamtlich: als Vorsitzender des Gefangenen- und Fürsorgevereins. (coh)

Es geht ja nicht darum, den Angeklagten herabzuwürdigen. Selbst wenn er soziale Deformationen aufweist – die Gründe dafür sind uns oft ja gar nicht bekannt. Wir betreiben kein Gesinnungsstrafrecht. Es ist unsere Aufgabe, Straftäter unter bestimmten Voraussetzungen wieder in den Kreis der „normalen“ Menschen aufnehmen zu können. Wenn es sein muss, auch nach einer angemessen harten Strafe.

Wie viele Urteile haben Sie in den vergangenen 30 Jahren gefällt, wie viele Täter hinter Gitter geschickt?

Ich habe es nicht gezählt. Wichtig ist nur der Rechtsfrieden. Das betrifft nicht nur Opfer und Täter, sondern auch die Gesellschaft. Das Interesse der Allgemeinheit ist schutzwürdig; dass die Menschen sehen: Es gibt eine öffentliche Verhandlung, es erfolgen Sanktionen. Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat.

Wie passt ins Bild, dass Sie einst in einem Aufsehen erregenden Fall, in dem es um den Tod eines Menschen ging, das Verfahren nicht eröffnen wollten? Nach Intervention der Staatsanwaltschaft wurde dem Autofahrer, der in Sankt Augustin einen Fußgänger überfahren und geflüchtet war, dann doch der Prozess gemacht; Sie verurteilten den Mann aufgrund von Indizien.

Ob diese Tat nachzuweisen war, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Wenn man den mittlerweile rechtskräftig Verurteilten fragte, würde er vermutlich von einem krassen Fehlurteil sprechen. Ich bin jetzt froh, dass doch eröffnet worden ist. Ohne den Prozess wäre der Rechtsfrieden nicht wieder herzustellen gewesen. Es hätte genauso gut in der letzten Instanz einen Freispruch geben können.

(Der Schuldspruch wurde in zweiter Instanz vom Bonner Landgericht bestätigt, d. Red.)

Haben Sie sich schon mal geirrt?

Sagen wir mal so: Sorgen würde mir machen, wenn ich einen Menschen ungerecht verurteilte. Weniger Sorgen, wenn ich jemanden ungerecht freispreche. Ein Urteil belastet einen Menschen als Einschnitt in seinem Leben. Aber auch ein Freispruch aus Mangel an Beweisen kann belasten. Wenn man etwas Schlimmes getan hat und es keinem sagen kann, nagt das an einem Menschen. Ich glaube, dass es manchmal einem Täter lieber ist, öffentlich verurteilt zu werden, die Schuld auf sich nehmen zu können, Buße zu tun. Auch wenn das mit einer hohen Geldstrafe oder gar Haft verbunden ist.

Es gibt oft Kritik an Bewährungsstrafen. Diese würden von den Verurteilten als Freispruch aufgefasst, wird gesagt.

Beim Amtsgericht geht es nicht um Kapitalverbrechen. Die Masse der Verfahren sind Verkehrsstraftaten, Diebstähle, Internet-Betrügereien, Leistungserschleichung. Derzeit wird ja darüber diskutiert, wie hoch die kriminelle Energie von Schwarzfahrern ist. Freiheitsstrafen gibt es nur, wenn jemand mit Geldstrafen nicht zu bändigen ist, keine Bewährung, wenn wir keine günstige Sozialprognose stellen können. Man kann immer schnell sagen, „die Leute müssen aus der Gesellschaft entfernt werden“. Wir müssen schauen, ob wir den Menschen zutrauen, vielleicht mit Hilfe einer Therapie ihr Leben künftig rechtstreu zu führen. Arbeit, Familie, die Bereitschaft, Schaden wiedergutzumachen, Einsicht, Reue, spielen eine entscheidende Rolle bei der Strafzumessung.

Sie sind auch Vorsitzender des Gefangenen- und Fürsorgevereins. Ist das eine Wiedergutmachung oder reine Nächstenliebe?

Ganz anders. Seit Gründung hat immer ein Kollege am Amtsgericht das Amt innegehabt. Es ist praktisch, um Spenden einzuwerben. Die Hauptarbeit tragen andere, die Leute von der JVA und von der Bewährungshilfe. Wir ermöglichen zum Beispiel die Teilnahme an Sportveranstaltungen, am Anti-Aggressionstraining, besorgen Weihnachtsgeschenke. Gefangene haben keine Lobby, müssen aber irgendwann wieder lernen, in der Gesellschaft zurecht zu kommen. Der Verein finanziert auch zwei Appartements für Leute, die unter Bewährung stehen. Ein weiteres Beispiel: Durch den Kauf eines gebrauchten Fahrrads konnte ein Verurteilter seinen Bewährungshelfer erreichen. Wäre er schwarz gefahren, wäre er in Haft gelandet. Er hat das Geld für das Rad übrigens in Fünf-Euro-Raten brav zurückgezahlt.

Sind Sie selbst schon mal bedroht worden?

Nein. Nicht nur die Öffentlichkeit, die Angeklagten erwarten ebenfalls ein gerechtes Urteil und sind dann auch nicht böse, das ist meine Erfahrung. Ein Wiederholungstäter, den ich mit den Worten verabschiedet hatte, „das nächste Mal können Sie direkt einen Koffer mitbringen“, kam dann tatsächlich mit gepacktem Koffer für die JVA in den Prozess. Er musste aber dann doch noch warten bis zum Haftantritt. Es kommt vor, dass Leute, die im Gefängnis gesessen haben, mir nachher in Freiheit Postkarten aus dem Urlaub schicken. Mit der Botschaft: „Sie haben mich verurteilt, das war auch richtig so. Jetzt hab ich das verbüßt und wollte mich mal melden.“

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