Abo

„Moby Dick“ vom RheinlandVor 50 Jahren schwamm der Beluga-Wal im Rhein

Lesezeit 4 Minuten
Beluga

Alle Versuche, das Tier zu fangen, scheiterten und es entwischte in friedliche holländische Gewässer.

Bonn – Vor 50 Jahren eroberte ein weißer Wal die Herzen der Menschen im Sturm. Das vierwöchige Gastspiel eines verirrten Belugawals im trüben Rheinwasser zwischen der Mündung des Stroms bei Hoek van Holland und der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz hatte das Zeug für einen erfolgreichen Hollywood-Streifen und drängte damals alle anderen Nachrichten in den Hintergrund.

Aus heutiger Sicht war es eine perfekte Mischung aus Herman Melvilles Romanklassiker "Moby Dick", der schnell zum Namensgeber des fünf Meter langen und 35 Zentner schweren Meeressäugers wurde, und dem Tierfilm "Free Willy" aus den 90er Jahren um einen freiheitsliebenden Orca-Wal. Und die Rundschau-Leser waren von Anfang an dabei, fieberten mit auf der rund 1000 Kilometer langen Odyssee, die Moby Dick auch nach Köln und in die damalige Bundeshauptstadt Bonn führte.

Rundschau titelt: „Sensation am Niederrhein“

Die unglaubliche Geschichte nahm ihren Anfang am 18. Mai 1966. Ein Schiffsführer hatte um 9.30 Uhr bei Stromkilometer 778,5 in Duisburg-Neuenkamp wohl zunächst seinen Augen nicht getraut, als vor ihm ein leibhaftiger Wal im Rhein auftauchte. Seinen folgenden Funkspruch soll die Wasserschutzpolizei zunächst für einen verspäteten Aprilscherz gehalten haben.

"Sensation am Niederrhein" titelte die Rundschau am nächsten Tag und veröffentlichte auf der Titelseite ein Foto des weißen Wals. Da war die Jagd auf das verirrte Tier mit Schleppnetzen, Stangen und Harpunen längst eröffnet. Wie Kapitän Ahab im Roman "Moby Dick" versuchte der damalige Duisburger Tierparkdirektor Dr. Wolfgang Gewalt, den Wal zu besiegen und für sein Salzwasseraquarium einzufangen, dass die Kreatur ihm persönlich Ruhm und seinem Tierpark viele Besucher einbringen möge. Dafür schien ihm jedes Mittel recht.

Immer in Deckung vor den „Verfolgern“

Aber "Moby Dick", den die Niederländer übrigens "Willi" getauft hatten, schlug seinen Häschern stets ein Schnippchen. Daran änderte sich auch nichts, als Dr. Gewalt sich einen erfahrenen Walfänger an die Seite holte. James Tibor, ein 33-jähriger Amerikaner aus Philadelphia, der in Deutschland Delphine verkaufte und vor Neufundland schon viele Wale gefangen hatte, sollte es richten. Moby Dick aber zeigte sich wenig beeindruckt von den Fangbemühungen, bei denen auch Wasserschutzpolizei und die Bundeswehr mitmischten.

Mal versteckte sich der Belugawal in einem Baggerloch bei Wesel mit Rheinzufluss, mal tauchte er einfach unter dem Netz weg, jedenfalls entwickelte sich der Walfang für Dr. Gewalt zu einem öffentlichen Desaster und mehrte die Zahl seiner Kritiker. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Kollegenkreis. Sein Vorhaben, das Tier zu narkotisieren, wurde "dumm" genannt. Der Wal müsse ertrinken, wenn seine Atmung gelähmt werde, schimpfte ein niederländischer Zoologe. Die Rundschau hatte sich längst auf die Seite des weißen Wals gestellt und bejubelte mit einer gewissen Häme in ihrer Ausgabe vom Sonntag, 22. Mai 1966, dass Moby Dick auch die vierte Runde der Treibjagd gewonnen habe.

Inzwischen war das Rheinufer zur Tribüne geworden. Tausende Ausflügler mit Ferngläsern pilgerten an den Niederrhein, um einen Blick auf den Wal zu erhaschen, aber der war nach den aufregenden ersten Tagen im schmutzigen Strom kurz vor Pfingsten abgetaucht. Auch ohne Moby Dick brummte es in den Ausflugsorten zwischen Duisburg und Emmerich, berichtete die Rundschau am 23. Mai. Einziges Gesprächsthema in den überfüllten Straßenlokalen: der weiße Wal.

Der weiße Wal erreicht Köln

Der hatte Deutschland den Rücken gekehrt und war im Ijsselmeer gesichtet worden. Aber offenbar war seine Mission noch nicht erfüllt, jedenfalls schwamm er an der Schleuse Kornwerderzand, die extra für "Willi de Wal" geöffnet wurde, nicht in die Nordsee, sondern wieder zurück nach Deutschland. Abermals düpierte er bei Duisburg seine Jäger, dass der damalige NRW-Ministerpräsident Dr. Franz Meyers ultimativ forderte: "Lasst Moby Dick endlich in Ruhe".

Am 10. Juni erreichte der weiße Wal Köln. Zuvor hatte der Beluga schon für einen Verkehrsstillstand auf der Leverkusener Autobahnbrücke und zu einer spontanen Arbeitsniederlegung im 19-stöckigen Bayer-Hochhaus gesorgt, weil jeder ihn sehen wollte.

Die Rundschau-Reporter begleiteten Moby Dick mit einer gecharterten Yacht bis nach Köln, wo am Ufer die Zuschauer jedes Auftauchen des Wals mit "Moby, Moby"-Rufen bejubelten. Tausende beobachteten seinen Weg nach Bonn, wo er durch seine Anwesenheit eine Bundespressekonferenz zur NATO und EWG sprengte. Man muss ja schließlich Prioritäten setzen, fand die internationale Journaille. Bis nach Bad Honnef und Rolandseck schwamm der Liebling der Nation, dann machte er urplötzlich kehrt. "Moby rast zum Meer" titelte die Rundschau am 15. Juni 1966. Mit 15 Kilometer in der Stunde nahm der Wal zügig Kurs auf die Nordsee, in die er in der Nacht zum 17. Juni bei Hoek van Holland wieder eintauchte. Mit Wehmut zwischen den Zeilen, aber auch der Gewissheit, dass er im Meer in Sicherheit sein würde, wünschte ihm die Rundschau im Namen der Leser "Eine gute Reise".

Moby Dick zum Hören

Die Künstlerin Barbara Haiduck hat bereits 2014 zu den damaligen Ereignissen eine Hörskulptur mit dem Namen "Beluga" geschaffen, die im Kölner Schlosspark Stammheim an der Rheinböschung aufgestellt ist. Über den QR-Code auf dem Hinweisschild kann ein Audio-Text von der Homepage der Künstlerin abgerufen werden, der den Hörer in das Jahr 1966 zurückversetzt und die Abenteuer von Moby Dick zwischen Duisburg und Bonn hautnah miterleben lässt. (kmü)

Rundschau abonnieren