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Mission im ewigen EisBonner Antarktis-Expedition auf den Spuren des Klimawandels

Lesezeit 14 Minuten
Antarktis

Adelie-Pinguine springen von einer Eisscholle in der westlichen Antarktis.

  • Seit sieben Wochen pflügt ein Forschungsschiff mit Bohrturm durch den Südatlantik.
  • Sie bohren bis zu 650 Meter in die Tiefe und wollen so mit Hilfe des erbohrten Materials Millionen Jahre zurückblicken.
  • Was passierte in früheren Warmzeiten? Heizte ein wärmeres Klima die Eisberg-Produktion an?
  • Der Bonner Geo-Wissenschaftler Michael Weber leitet die Expedition. Wir haben mit ihm gesprochen.

Bonn – Der Zweck von Spezialschiffen kann sich manchmal ins Gegenteil verkehren. Einst gehörte die „Joides Resolution“ (JR) mit ihrem Bohrturm der BP und suchte nach neuen Erdölförderstätten. Als sich in der Wissenschaft die These, dass Treibhausgase aus der Verbrennung von Öl und Kohle das Klima erwärmen, in ein Faktum verwandelte, wurde die JR Mitte der 1980-er Jahre zum schwimmenden Labor umgebaut und bohrt am Tiefseegrund. In Sediment-Bohrkernen erhoffen Forscher sich Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart: Wie schnell kalbten damals – in vergleichbaren Warmphasen – die Gletscher der Antarktis? Wie rasch stieg der Meeresspiegel? Zwar war es vor etwa 400.000 Jahren viel wärmer als heute und der Meeresspiegel lag rund zehn Meter höher, aber das Klima erwärmte sich nicht so schnell wie heute. Aktuell versucht eine internationale Expedition solche Fragen zu beantworten.

Das mehr als 130 Personen umfassende Team ist gerade in der „Eisberg-Allee“ (Iceberg Alley) im Nordwesten der Antarktis unterwegs, wo sie auf einer von Meeresströmungen vorgegebenen Route in wärmere Gewässer nach Norden ziehen. In einem Blog schreiben die Forscher an Bord, was sie denken und gerade so machen.

Menschheit am Scheideweg

Thomas Ronge vom Alfred-Wegener-Institut (Bremerhaven): „Aktuell steht die Menschheit am Scheideweg. Die von uns allen ausgelöste Erderwärmung ist zwar nicht mehr zu stoppen, aber wenn wir unverzüglich handeln, lassen sich die schlimmsten Folgen noch einigermaßen eindämmen. Um besser zu verstehen, wie diese Folgen aussehen könnten, blicken wir an Bord weit in die Vergangenheit zurück.“ Ronge findet, dass seine amerikanische Kollegin Maureen Raymo, eine mehrfach ausgezeichnete Ozeanografin, es mit „Past is prologue“ treffend ausgedrückt habe: die Vergangenheit ist das Vorwort – für das, was der Klimawandel der Menschheit noch alles aufbürden wird. Ronge erklärt auch, was alles vorab geklärt sein muss, bevor das International Ocean Discovery Program (IODP) „es auch nur annähernd in Betracht zieht, die »Joides Resolution« in ein Gebiet zu schicken“. Schließlich kostet so eine IODP-Expedition rund 25 Millionen Dollar. Zahlreiche Vorexpeditionen „mussten beweisen, dass wir nicht einfach Schlamm, sondern den richtigen Schlamm erbohren“.

Ob es der richtige Schlamm ist, analysiert Linda Armbrecht, die gerade an der University of Adelaide (Australien) promoviert. Sie braucht nur eine Zahnstocherspitze des Materials und fahndet dann unter dem Mikroskop nach Lebewesen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. „Mikrofossilien“ heißen sie. Konkret sucht Armbrecht nach Phytoplankton-Arten. Deren Erbmaterial sei „auch nach Tausenden von Jahren immer noch im Meeresboden erhalten“. Einige Meter weiter sitzt Anna Glüder. Sie ist Sedimentologin und Paläo-Ozeanografin – und nicht etwa „Künstlerin oder Raumdekorateurin“, schreibt die deutsche Gastforscherin an der Oregon State University (USA), weil sie sich ständig mit dieser Frage beschäftigen muss: Ist das nun ein dunkelgrünliches Grau oder ein sehr dunkelgräuliches Grün? Sie muss das Material aus der Tiefe „nach Farbton, Sättigung und Helligkeit codieren“. Sie kann aus 450 unterschiedlichen Erdfarbtönen wählen. Die Farbzeichen heißen – zum Beispiel – 5R 8/2 für helles Pink oder 10B2.5/1 für bläuliches Schwarz.

Gearbeitet wird in zwei Zwölf-Stunden-Schichten

Glüder meint, „um große Veränderungen in der Klimageschichte des Südozeans zu erkennen, muss man sich manchmal eben die Details ansehen“. Und für die unterschiedlichsten Details gibt es ausgesuchte Spezialisten aus Sedimentphysik, Geochemie, Paläomagnetik und so weiter. Die Crew der JR stammt aus nicht weniger als 20 Nationen.

Die Amerikanerin Michelle Guitard (University of South Florida) hat schon 60 Expeditionstage mit anderen Missionen hinter sich. Eine erfahrene Spezialistin, die die physikalischen Eigenschaften eines Bohrkerns misst: „Pro zehn Meter Kern brauchen wir rund 45 Minuten.“ Guitard arbeitet, wie andere auch, in zwei Zwölf-Stunden-Schichten, jeweils von mittags bis Mitternacht oder von Mitternacht bis mittags. Eine Kreuzfahrt ist das nicht. Und 25 Millionen Dollar Steuerzahlergeld aus vielen Nationen ist eine Menge Geld und deshalb jede Stunde Forschungszeit kostbar.

Interview mit Michael Weber

Über das große Ganze auf dem 142 Meter langen Bohrschiff wacht indes Privatdozent Dr. Michael Weber von der Universität Bonn. Der Geo-Wissenschaftler hatte vor Jahren den Antrag bei der IODP gestellt und die passenden Forscher mit ihrem speziellen Wissen weltweit ausgesucht. Nun kämpfen Weber und Begleiter – Wissenschaftler, Bohrexperten, Matrosen, Küchenpersonal, Ingenieure – seit Wochen in einer der „wildesten Gegenden unseres Planeten“ (Weber) um Effizienz an Bord und gegen das Wetter. Unser Autor hat viele Fragen:

Herr Weber, wo sind Sie gerade?

Michael Weber: Seit einigen Wochen am Polarkreis im südlichen Scotiameer. Das grenzt nördlich an das Weddellmeer. Genauer gesagt befinden wir uns im Dove-Becken, einem Tiefseebecken im Zentrum der Iceberg Alley.

Was machen Sie gerade? Was ist Ihr Job?

Weber: Ich leite die Expedition. Vor ein paar Jahren habe ich erste Theorien und Befunde zum Abschmelzverhalten der Eisberge und den Zusammenhang mit dem weltweiten Anstieg des Meeresspiegels seit Ende der letzten Eiszeit veröffentlicht. Das Echo zu diesen Arbeiten motivierte mich, als Erstantragsteller, zusammen mit 20 Forschern aus aller Welt, einen Antrag im System des International Ocean Drilling (IODP) zu stellen, der letztes Jahr genehmigt wurde. Das bedeutet, dass wir das Forschungsschiff „Joides Resolution“ für zwei Monate nutzen können, um wissenschaftliche Ziele der Eisbergerforschung zu realisieren. Da eine solche Expedition etwa 25 Millionen US-Dollar kostet, kann man sich leicht vorstellen, wie heiß umkämpft diese Mittel sind.

Wie ist das Wetter am anderen Ende der Welt?

Weber: Wir befinden uns östlich der Drake Passage. Diese zählt zu den windigsten Gebieten auf unserem Planeten. Windgeschwindigkeiten von 80 bis 100 Stundenkilometern sind an der Tagesordnung. Wir haben noch Glück momentan. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Aufgrund des Windes ist die gefühlte Temperatur jedoch deutlich kälter und bei Starkwind ist es kein Vergnügen, den warmen Schiffskörper zu verlassen und auf dem Außendeck zu stehen. Dort bildet sich auf den glatten Eisenböden manchmal auch Eis, dann sind Außenarbeiten regelrecht gefährlich.

Lässt es sich bei diesen extremen Bedingungen überhaupt arbeiten?

Weber: Ein großes Problem sind die Wellen. An guten Tagen sind sie zwei bis vier Meter hoch, an schlechten sechs bis neun Meter. Das beschert den meisten Wissenschaftlern an Bord, mich eingeschlossen, Übelkeit und schlechte Laune. Die Wellen sind auch ein Problem für den Bohrbetrieb. Eine weitere potenzielle Gefahr besteht im Meereis. Die Meereisgrenze liegt circa 100 Kilometer südlich von uns, und da hier nun Herbst ist (wir sind ja auf der Südhemisphäre), arbeitet sich das Eis langsam nach Norden vor. Da unser Schiff keine Eisbrecherqualitäten besitzt, haben wir deswegen zuerst an der südlichsten Stelle angefangen und haben unsere Bohraktivitäten dann Richtung Norden und Südamerika verlagert.

Stellen die Eisberge keine Gefahr dar?

Weber: Doch, natürlich, es ist sogar die größte. Diese ist jedoch bewusst gewählt, da unsere Forschungsexpedition genau diese zum Ziel hat. Jeder kennt ja das Schicksal der Titanic, und obwohl wir Eisberge studieren wollen, dürfen wir uns ihnen nicht zu sehr nähern. Wenn Eisberge sich in einem bestimmten Radius befinden, wird gelber Alarm ausgelöst. Unsere Eisbeobachter verfolgen den Kurs der Eisberge genau auf ihrem Radar. Wenn sie zu nahe kommen, gibt es roten Alarm und wir müssen das Bohrgestänge aus dem Meer ziehen und eine Bohrung ab- oder unterbrechen.

Plötzlich auftauchende Eisberge bedeuten also großes Pech für Ihre Bohrungen . . .

Weber: Ja, manchmal muss ich harte Entscheidungen treffen. Da war zum Beispiel im Dove-Becken eine Schicht 360 Meter unterhalb des Meeresbodens, die wir unbedingt erreichen wollten. Im ersten Anlauf schafften wir 354 Meter, dann kam uns ein Eisberg dazwischen. Im zweiten Anlauf fast das gleiche Bild: bei 342 Metern machte uns ein Eisberg erneut einen Strich durch die Rechnung. Drei verlorene Tage. Dann brach ich das Vorhaben schweren Herzens ab.

Wie geht man mit dem Frust um?

Weber: Das ganze Team hat dann ein Tief. Aber in diesem Fall wandelte sich die Stimmung schnell in Euphorie. Unsere Daten zeigen, dass wir mit den obersten 350 Metern ein einmaliges und vollständiges Klimaarchiv der letzten vier Millionen Jahre vorliegen haben. Noch nie wurde eine derart vollständige Bohrung so nahe an der Antarktis gewonnen. Nun könnten selbst unsere kühnsten Träume übertroffen werden. Langsam macht sich das Bewusstsein breit, dass wir hier Wissenschaftsgeschichte schreiben könnten. Ein tolles Gefühl.

Wie sieht ein Forschungstag an Bord aus, wenn Wind und Wellen oder Eisberge Sie nicht ärgern?

Weber: Normalerweise kommen etwa alle eineinhalb Stunden knapp zehn Meter Bohrkern aus der Tiefe an Bord. Dann beginnt die Arbeit der Spezialisten an den jeweils 1,5 Meter langen Kernstücken. Zunächst werden die physikalischen Eigenschaften untersucht, dann folgt die Sediment-Beschreibung, danach die Altersbestimmung, schließen sind die Geochemiker dran. Alle Arbeiten müssen wie ein Räderwerk ineinandergreifen, und ich bin ständig auf der Suche nach dem Flaschenhals, der unbedingt vermieden werden soll.

Letztlich suchen Sie nach Klimaspuren in der Vergangenheit. Welches Wissen genau glauben Sie aus der Tiefe heben zu können?

Weber: Wir erforschen den Eismassenverlustes der Antarktis in der Vergangenheit. Aus dieser Rekon-struktion über das Abschmelzverhalten des antarktischen Eises lassen sich dann Aussagen über die Zukunft machen. Eisberge verursachen etwa die Hälfte des gesamten Eismassenverlustes. Wir sind hier in der Iceberg Alley unterwegs, dort wo die Mehrheit der antarktischen Eisberge hindriftet, nachdem sie vom Eispanzer abgebrochen sind.

„Die Vergangenheit ist der Schlüssel für die Zukunft“

Hier kommen sie in Kontakt mit dem deutlich wärmeren Wasser des Antarktischen Zirkumpolarstroms. Die Eisberge schmelzen folglich, und die im Eis enthaltene Geröllfracht rieselt zum Meeresboden. Dort bildet sie über Jahrtausende und Jahrmillionen eine Schicht – zusammen mit dem Staub, der aus Patagonien eingeweht wird, und den feinkörnigen Partikeln, die durch Meeresströmungen abgelagert werden.

Wie viele Bohrungen hat Ihr Team bisher gemacht?

Weber: Wir haben uns auf vier Stellen in diesem Sedimentpaket konzentriert, um die im Eis transportierten Gerölle zu untersuchen. Damit können wir sagen, wie viele Eisberge zu bestimmten Zeiten abgebrochen sind und von wo genau in der Antarktis die Geröllfracht herkam. Somit können wir Aussagen über den Zusammenhang von Eischmelze und globalem Meeresspiegelanstieg in der Vergangenheit machen, was für künftige Prognosen von enormer Bedeutung ist.

Wo werden die Bohrkerne analysiert? Bereits an Bord?

Weber: Teil, teils. Wir bezeichnen die JR gerne als schwimmendes Hightech-Labor. Hier gibt es eine Menge Gerätschaften, die sie sonst auf keinem Forschungsschiff finden. Wir messen sedimentphysikalische Eigenschaften wie Farbspek-trum, Schwallwellengeschwindigkeit, Dichte, Gammastrahlung, Gehalt an magnetischen Partikeln und so weiter, das Ganze sehr hoch aufgelöst, das heißt in Ein-Zentimter-Abständen. So generieren wir Tausende von Messpunkten an jedem Bohrkern bereits an Bord. Daneben wird ein Teil der chemischen Untersuchung und Altersbestimmungen bereits an Bord durchgeführt. Bei unserem Messabstand erhalten wir also wichtige Informationen zum früheren Abschmelzverhalten der Antarktis im Abstand von Jahrzehnten, was bei einer Gesamtdauer von mehreren Millionen Jahren eine sehr genaue Rekonstruktion zulässt. Schließlich wollen wir ja daraus lernen und wissen, wie viel Eis in den nächsten Jahrzehnten bis Jahrhunderten abschmilzt und wie hoch der Meeresspiegel dann weltweit ansteigen wird. Die Vergangenheit ist also auch hier der Schlüssel zur Zukunft.

Ein 100-Meter-Abschnitt eines Bohrkerns: Wie viele Jahre umfasst der durchschnittlich?

Weber: Unser Ziel ist es, dicke Sedimentpakete zu bohren, die rasch abgelagert wurden, damit wir einen detaillierten Einblick erhalten. 100 Meter spiegeln häufig rund eine Million Jahre Ablagerungsgeschichte, manchmal aber nur 500 000 Jahre.

In Deutschland diskutieren Medien und Politik gerade eine CO2-Steuer und Schüler protestieren freitags für mehr Klimaschutz. Was sagen Sie aus antarktischer Perspektive dazu?

Weber: Unter Wissenschaftlern ist der Klimawandel Fakt. Es gibt genügend fundierte Szenarien, die klar sagen, was passiert, wenn wir nicht gegensteuern. Keines diese Szenarien sieht gut für uns Menschen aus, vor allem nicht, wenn es um das Abschmelzen des antarktischen Eispanzers geht.

Können Sie in den gezogenen Bohrkernen schon zurückliegende Phasen einer beschleunigten Eisberg-Produktion erkennen?

Weber: Ja, absolut. Dazu haben wir bereits in führenden Arbeiten publiziert. Die Eiszeiten und Warmzeiten scheinen jeweils wenige Eisberge zu produzieren. Im Übergang von kalt zu warm messen wir jedoch eine deutlich erhöhte Produktion. Das bereitet uns Sorgen, da wir uns momentan in einer vom Menschen gemachten Erwärmungsphase befinden. Es steht also zu befürchten, dass Teile der Antarktis rasch abschmelzen werden.

Lässt sich die technische Seite des Erkenntnisgewinns im Prinzip mit der der Eisbohrkerne vergleichen?

Weber: Ich vergleiche unsere Vorhaben hier lieber mit einer Nasa- Mission, was den technischen Aufwand, die Durchführung und die Gesamtlänge von etwa einem Jahrzehnt betrifft. Eisbohrkerne liefern ebenfalls Klimaarchive, allerdings können wir weiter in die Vergangenheit zurückschauen. Somit können nur wir Zeiten mit höherem Meeresspiegel und höheren Gehalten klimawirksamer Treibhausgase in den tieferen Bereichen unser Bohrungen analysieren. Und das sind genau die Szenarien, auf die wir uns in naher Zukunft zubewegen.

Wie weit zurück konnten Sie mit den Bohrungen vor dieser Expedition schauen?

Weber: Mit einer Bohrtiefe von 50 Metern konnten wir über das früher erbohrte Material „nur“ rund 20 000 Jahre Klimavergangenheit erkunden, also etwa bis zum Ende der letzten Eiszeit. Mit den jetzigen Tiefbohrungen können wir mehrere Millionen Jahre zurückschauen. Wir können also zum ersten Mal das Abschmelzen der südlichen Polkappen zu Zeiten studieren, zu denen es wärmer als heute war; Zeiten, in denen der weltweite Meeresspiegel höher war als heute; Zeiten, in denen die Nordhalbkugel frei von Eisschilden war. Dazu bedarf es eben eines Bohrschiffes wie der „Joides Resolution“.

Wie lang ist so ein Bohrer?

Weber: Wir haben an mehreren Stellen bis zu 650 Meter tief gebohrt. Dabei lagen die Kernstationen etwa in 3,5 Kilometer Tiefe, das heißt, unser Bohrgestänge war insgesamt über vier Kilometer lang. Das ist schon sehr außergewöhnlich und kann nur von wenigen Schiffen in der Welt geleistet werden.

Lässt sich schon etwas über die Ergebnisse sagen?

Weber: Erste Erkenntnisse belegen, dass die Bohrkerne von hervorragender Qualität sind und ein einzigartiges Klimaarchiv darstellen. Die Daten sind fantastisch und zeigen das Abschmelzverhalten des antarktischen Eises für wichtige Zeiträume der jüngeren Erdgeschichte. Mehr kann ich noch nicht verraten, denn wir müssen alles noch genauer analysieren.

Wie sind die Wetteraussichten für die letzten Tage der Expedition?

Weber: Schlecht, die Wellen sollen nach der Prognose immer höher werden. Mal sehen, wie viele Bohrkerne wir noch ziehen können, bevor es ins chilenische Punta Arenas zurückgeht. Ich vermute, dass die Qualität der letzten Bohrkerne durch das schlechte Wetter auf See leiden wird. Allerdings haben wir mit fünf Bohrkernen von jeweils bis zu 650 Metern Länge schon eine ziemlich volle Schatztruhe.

Studien: Forscher sagen den „unaufhaltsamen Verfall“ der Westantarktis voraus

Wie sich alle irrten: Als Europas Medien vor etwa 30 Jahren erstmals eine Bedrohung der Menschheit durch zu viele Treibhausgase thematisierten, galt das Eis der Antarktis noch als ewig, der südlichste Kontinent als viel zu kalt, als dass ihm eine durchschnittliche Erderwärmung um ein bis drei Grad Celsius etwas anhaben könnten. Der Blick richtete sich vor allem auf Grönland, die zweitgrößte zusammenhängende Eismasse nach der Antarktis. Einmal geschmolzen, würde der Meeresspiegel um etwa sieben Meter steigen. Das Eis der gesamten Antarktis taugt für einen etwa 60 Meter höheren Ozeanpegel.

Nach der Jahrtausendwende änderte sich das Bild. Die Arktis samt Grönland geriet zwar, wie erwartet, in eine Abwärtsspirale des Schmelzens, aber Studien über die Antarktis skizzierten eine unerwartete Entwicklung: auch hier Eisverluste. Drei Untersuchungen prophezeiten dann vor fünf Jahren unabhängig voneinander, dass der Verfall des westantarktischen Eisschildes unaufhaltsam begonnen habe. Während die grönländische Eismasse durch eine erwärmte Lufthülle taut, ist es am Südpol komplizierter. Die globale Erwärmung hatte zuerst die Luft-, dann die Meereszirkulation verändert, wodurch zunehmend warmes Ozeanwasser unter das Schelfeis der Westantarktis vordrang, das bisher die Gletscher dahinter blockierte. Forscher prägten für diese topographische Besonderheit die Metapher, wonach es sich mit dem wegtauenden Schelfeis wie mit einer Flasche verhalte, der man den Korken ziehe. Ist das Schelfeis weg, können die dahinter liegenden Gletscher beschleunigt ins Meer fließen. Vereinfacht: Das Eis Grönlands wird von der Wärme „oben“ (Luft) angegriffen, das der Westantarktis von „unten“ (Ozean).

Während Politik und Öffentlichkeit, den Berichten des UN-Weltklimarats folgend, Maßnahmen gegen einen Meeresspiegelanstieg um rund einen Meter bis 2100 diskutieren, zeichnen diese Studien ein fataleres Bild. Es entspricht mehr der Vorhersage des US-Glaziologen John Mercer, der bereits 1978 im Fachmagazin „Nature“ warnte, dass der Eisverlust der Westantarktis wahrscheinlich „die erste desaströse Folge der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe“ wäre.

Vor dem Hintergrund einer fragilen Antarktis erstaunt es nicht, dass das International Ocean Discovery Program 25 Millionen Dollar für eine Expedition (Haupttext) bewilligte. Schließlich leben mehr als 200 Millionen Menschen direkt an den Küsten der Kontinente. Als Faustregel gilt: Pro ein Grad mehr Erderwärmung steigt der Meerespegel um etwa zwei Meter.

Nach Satellitendaten wachsen die antarktischen Eisverluste. Seit 2012 haben sie sich gar verdreifacht. Seitdem ist auch die Bilanz der Ostantarktis negativ. Bis 2012 hatte dort stärkerer Schneefall noch die Eisverluste kompensiert. (ww)

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