Türkei und der InzestPromi-Affäre löst Debatte über geduldeten Missbrauch aus

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Istanbul –  Es war ein Meisterstück des Paparazzo-Handwerks: eine Fotoserie, die einen bekannten türkischen Schauspieler auf seiner Jacht vor dem Badeort Bodrum in einem feurigen Kuss mit einer deutlich jüngeren Blondine zeigt. Die Bilder wären auf die Klatschseiten der türkischen Presse beschränkt geblieben, wenn sich nicht herausgestellt hätte, dass es sich bei der Partnerin des verheirateten Promis um seine leibliche Nichte handelte. Die Affäre hat eine bittere Debatte über Inzest in der türkischen Gesellschaft ausgelöst.

Für die beiden Liebenden ging die Geschichte schlecht aus. Gegen den Schauspieler und TV-Moderator Murat Basoglu leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ein; er darf das Land bis auf Weiteres nicht mehr verlassen. Der Ehemann der Nichte reichte die Scheidung ein.

"Warum wundern wir uns über Murat Basoglu?", fragte die Journalistin Melis Alphan in einer Kolumne für die Zeitung "Hürriyet". Inzest sei in der türkischen Gesellschaft trauriger Alltag, schrieb Alphan und zitierte Statistiken einer Frauengruppe, wonach 40 Prozent aller Türken schon einmal inzestuöse Beziehungen gehabt hätten.

Das sei viel zu hoch gegriffen, sagte Alanur Cavlin, Leiterin des Fachbereichs für Demographie an der Hacettepe-Universität in Ankara. Dass Inzest in der Türkei tatsächlich ein verbreitetes Problem ist, kann die Forscherin aber bestätigen. So verbreitet, dass sie ein Buch darüber geschrieben hat, das demnächst erscheint: "Inzest: Die dunkle Seite der Familie".

Die Wurzel des Inzest-Problems sieht die Forscherin ausgerechnet in dem hohen Wert der Familie in der türkischen Gesellschaft. "In unserer Gesellschaft genießt die Familie einen wichtigeren Status als das Individuum", sagte Cavlin der Zeitung "BirGün". Zum Schutz der Familie werde deshalb notfalls das missbrauchte Kind geopfert.

Die Familie ist wichtiger als das Individuum

Was die Forscherin abstrakt beschreibt, können Aktivistinnen mit derben Erfahrungen untermauern. Canan Güllü, die Vorsitzende des Türkischen Verbandes der Frauenvereine, berichtet von Müttern, die ihre Töchter beschwören, den Missbrauch durch Vater oder Bruder zu ertragen. "Soll er denn zu einer Fremden gehen?", heiße es dann oder: "Halte durch, er braucht das eben." Aus Gerichtsakten zitiert sie einen angeklagten Vater mit den Worten: "Herr Richter, soll ich die Früchte von dem Baum, den ich gepflanzt habe, etwa meinem Nachbarn überlassen?"

Die Debatte ruft jetzt die Politiker auf den Plan: Bisher findet Inzest in den türkischen Gesetzbüchern keine Erwähnung. Ein Abgeordneter der Regierungspartei AKP brachte einen Gesetzentwurf ein, nach dem Inzest künftig mit bis zu zwölf Jahren Haft bestraft werden soll.

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