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Harry Potter und Co.Was Literatur braucht, um junge Leser zu fesseln

Lesezeit 9 Minuten
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Der Erfolg der Harry-Potter-Reihe nach der Ersterscheinung 1998 ist von anderen Fantasy-Mitstreitern kaum zu schlagen.

  • Autorin Joanne K. Rowling hat bewährte Genres mit Potter zu etwas Neuem komponiert.
  • Auf den Spuren ihres Geheimrezeptes: Was macht Potter zu etwas Besonderem? Wird es nochmal ein vergleichbares Fantasy-Abenteuer geben?
  • Eine Analyse, warum Harry Potter auf dem besten Weg ist, ein Klassiker zu werden.

Köln – Es war einmal ein Junge, ein Säugling, um genau zu sein, dessen Eltern starben, um ihn zu schützen. Allein der Junge überlebte diesen Angriff durch das wahrhaftig Böse und trug dabei lediglich eine blitzförmige Narbe auf der Stirn davon. Es war einmal ein Junge, der kämpfte unterstützt von seinen beiden besten Freunden als Jugendlicher gegen das wahrhaftig Böse, besiegte es letztendlich – und wurde so zum Retter der menschlichen und der magischen Welt. Es war einmal ein Junge, der schlich sich, Buchseite für Buchseite, in das Herz und das Hirn von Millionen Lesern.

Die Geschichte hinter Harry Potter wirkt wie ein Märchen. Nicht nur aus literarischer Sicht, weil in den sieben Bänden Elemente dieses Genres wiederzufinden sind. Sondern auch aus Marketingsicht, weil Autorin Joanne K. Rowling von einer armen, alleinerziehenden Mutter, deren Geschichte kein Verlag drucken wollte, zu einer der berühmtesten Autorinnen unserer Zeit wurde.

Und ebenfalls – und darum soll es hier im Besonderen gehen – aus pädagogischer Sicht: Keine andere Buchreihe konnte in den vergangenen 20 Jahren so viele Kinder fesseln, konnte sie bewegen, die Spielkonsole auszuschalten und die Buchdeckel zu öffnen, konnte sie zu Lesern machen. Harry Potter ist ein Phänomen, ein moderner Klassiker, an dessen Ende von Band sieben, nach mehr als 4300 gelesenen Seiten, zwar das Böse besiegt ist, aber trotzdem ein Dilemma steht: Was lesen wir nun? Was ist so ähnlich wie Harry Potter? Und ist das überhaupt gut, immer nur Fantasy zu lesen?

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Kinder bei der Stange halten

Fragen, die Eltern bewegen, und die vor allem Buchhändler oft zu hören bekommen. „Viele Kinder, die vorher gar nicht gelesen haben, sind durch Harry Potter dazu gekommen. Das passiert auch 21 Jahre nach Veröffentlichung des ersten Bandes“, sagt Thea Wittmann, Geschäftsführerin der Kinder- und Jugendbuchhandlung „Knirps & Riese“ in Ehrenfeld. Und diese Kinder will man natürlich bei der Stange halten, denn so viel ist klar: Lesen macht schlau. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, sind allgemein erfolgreicher in der Schule. Sie haben in Deutsch, Mathe und Fremdsprachen bessere Noten als Kinder, denen nicht vorgelesen wird.

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Und: Kinder, die lesen oder vorgelesen bekommen, sind empathischer, haben einen höheren Gerechtigkeitssinn und besonders starke soziale Kompetenzen – so sind sie etwa deutlicher bemüht, andere Kinder in die Gemeinschaft zu integrieren. Das, um nur einmal zwei zentrale Ergebnisse aus den Studien der „Stiftung Lesen“ zu zitieren. Doch was macht Harry Potter so besonders?

Komposition eines neuen Genres

„Wenn es eine einfache Formel dafür gäbe, wie Geschichten erfolgreich werden, dann wäre ich jetzt reich“, sagt Gabriele von Glasenapp, Professorin an der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung der Universität zu Köln. Trotzdem sucht die Forschung, die das Phänomen Potter schon seit vielen Jahren analysiert, nach den Gründen für den Erfolg um den schmächtigen Jungen mit den wuscheligen Haaren und der Blitznarbe auf der Stirn.

„Joanne K. Rowling hat bewährte Bestandteile aus Genres wie Fantastik, Abenteuerroman, Schulgeschichten und Coming-of-Age gemischt und zu etwas völlig Neuem komponiert. Und zwar so, dass der Leser nicht weiß, wie es ausgehen könnte“, erklärt Gabriele von Glasenapp. Andere Genres folgten einer klaren Struktur – die auch dem Leser bekannt sei. Klar weiß man am Anfang des Krimis noch nicht, wer der Mörder ist, doch die Schritte bis zu seiner Festnahme folgen einem altbekannten Muster. Bei Harry Potter steht zwar auch der ultimative Kampf zwischen Gut und Böse im Zentrum, viele Figuren kann man trotzdem weder der einen noch der anderen Seite zuordnen. Man denke an Professor Snape, der Harry in der Zaubererschule Hogwarts stets das Leben schwer macht, dem aber zum Ende der Geschichte eine Schlüsselrolle zuteil wird.

Potter wird „freiwillig" gelesen

Zudem hat Rowling ein sehr ausdifferenziertes und detailreiches neues Universum erfunden, in das man sich als Leser sehr gut hineinversetzen kann. So sehr, dass das von der Autorin erdachte Spiel „Quidditch“ mittlerweile sogar in der realen  Welt gespielt wird:  Mit einem Besen zwischen den Beinen – nur dass der Spieler damit leider nicht abheben kann.  Rowling hat ein Werk geschaffen, das nicht nur Kinder, sondern Leserinnen und Leser aller Altersstufen anspricht – und von diesen auch tatsächlich freiwillig gelesen wird. Ein Phänomen, das von Glasenapp zwar auch schon bei Michael Endes „Momo“ beobachtet hat, aber nicht in dieser Größenordnung. „So wie wir das heute einschätzen können, ist Harry Potter auf dem besten Weg, ein Klassiker zu werden.“ Und zwar einer, der im Gegensatz zu vielen Klassikern der Allgemeinliteratur auch gerne gelesen werde, ähnlich wie „Pippi Langstrumpf“, „Die kleine Hexe“ oder „Die unendliche Geschichte“.

Die Zahlen sprechen für sich: Die Potter-Bände wurden in 80 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 500 Millionen Mal verkauft. Allein in Deutschland liegen die Verkaufszahlen bei über 34 Millionen Exemplaren. Im vergangenen Jahr nahm der Carlsen-Verlag noch einmal ordentlich Geld in die Hand und brachte anlässlich des 20-jährigen Jubiläums am 28. Juli 2018 alle Bände neu illustriert heraus. Die acht Filme gewannen eine Vielzahl an Preisen und spielten weltweit rund acht Milliarden US-Dollar ein. Damit sind sie nach den Marvel- und den Star-Wars-Filmen die dritterfolgreichste Filmreihe der Welt. 

Halbgötter und Zeitreisende

Eine Leistung, die verständlicherweise viele Nachahmer hervorbrachte. Die Kinderliteratur steht nach Einschätzung  von Wissenschaftlerin Gabriele von Glasenapp „in voller Blüte“, vor allem, was ihre Vielfältigkeit anbelangt. Der Markt ist in den vergangen Jahren geradezu explodiert, rund 9000 Kinder- und Jugendbücher erscheinen in Deutschland – pro Jahr. Davon sind wenigstens ein Drittel Übersetzungen. Der Boom begann vor rund 25 Jahren mit der Neugründung von Kinder- und Jugendbuchverlagen wie dem Moritz- und dem Kindermann Verlag sowie der Einführung eines Kinderbuchprogramms beim renommierten Hanser Verlag. Und bekam ordentlich Schwung durch Harry Potter.

„Vor Harry war Fantasy vor allem etwas für Nerds“, sagt Buchhändlerin Thea Wittmann. „Doch Joanne K. Rowling hat die magische Welt auf eine einzigartige Weise mit der normalen verknüpft – und sie damit auch für Leser geöffnet, die sich bis dahin nicht für Fantasy interessiert haben.“

Nach Harry kamen die Vampire aus den „Biss“-Büchern, die Halbgötter rund um „Percy Jackson“, die Zeitreisenden aus der „Rubinrot“-Trilogie, die Werwölfe aus „Die Wölfe von Mercy Falls“, die Buchhelden aus „Tintenherz“, die Jugendlichen aus der Dystopie „Die Tribute von Panem“, und noch viele, viele mehr. Plötzlich waren die Settings in Kinderbüchern magische Buchläden, verzauberte Gärten und Schulen voller magischer Tiere.

Neue Fokussierung bei Verlagen

„Auf dem Markt findet man viel Gutes, sehr viel Mittelmaß – und ziemlich viel hemmungslos »Auf-den-Markt-geworfenes«“, sagt Ute Wegmann. Die Kölner Literaturkritikerin ist auf Kinder- und Jugendbücher spezialisiert und selbst Autorin. „Jeder Verlag will natürlich ein Stück vom Kuchen, es wird ungeheuer viel produziert, oft sehr bunt. Das bedeutet noch weniger Verkäufe von anspruchsvollen Einzeltiteln, die selten in die zweite Auflage kommen. Mein Eindruck ist aber im Moment auch, dass bei ein paar kleineren, mutigen Verlagen wieder eine Fokussierung stattfindet.“

Eine Einschätzung, die den preisgekrönten deutschen Autor Klaus Kordon freuen dürfte. Kordon, der für seine realistischen Erzählungen bekannt ist, beklagte kürzlich in einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur einen Verfall der Kinderliteratur. „Ich habe in den 70er Jahren angefangen zu schreiben. Damals entstand die ernsthafte Jugendliteratur, ich kam genau in diese Welle hinein. Kritische Bücher, etwa zur Aufarbeitung der NS-Zeit waren gefragt. Auch um die Wende herum gab es ein großes Interesse. Seit Harry Potter, also etwa seit mehr als 15 Jahren, wird das immer weniger.“ Man müsse den Kindern mehr zumuten, fordert er. „Nicht immer nur Pudding servieren, von Pudding kriegt man doch keine Muskeln. Man muss auch mal etwas Handfestes essen, mal ein Steak oder so, an dem man auch mal kauen muss.“

Kordons Ansicht, durch Harry Potter habe das Interesse an historischen Romanen abgenommen, kann Ute Wegmann nicht teilen. „Es sind zwei völlig verschiedene Genres, die nebeneinander stehen, und jedes hat seine Leserinnen und Leser.“

Kinder entwickeln selbst Vorlieben

Den Ergebnissen der aktuellen Pisa-Studie zufolge, in der die Kompetenzen von 15-jährigen Schülern in mehr als 70 Ländern getestet und verglichen werden, lesen viel zu wenige Kinder und Jugendliche überhaupt. Jeder fünfte Neuntklässler hat große Mühe, Texte lesen und verstehen zu können. „Man sollte sich doch freuen, wenn Kinder überhaupt lesen und sie nicht in irgendeine Richtung drängen“, findet  Literaturkritikerin Wegmann. Sie glaubt: „Wenn man ein Kind einmal ans Lesen gebracht hat, dann entwickelt es nach und nach seine eigenen Vorlieben, liest heute Fantasy, aber morgen interessiert es sich vielleicht für eine historische Erzählung oder die Biographie von Nick Cave oder den in lyrischer Prosa geschriebenen Roman „A long way down“ von Jason Reynolds.“

Natürlich müsse man Kindern Angebote machen. Mit ihnen in die Buchhandlung oder die Bibliothek gehen,  vielleicht auch mal gemeinsam lesen. Und es gleichzeitig aushalten können, wenn das Kind sich eben nicht für den scheinbar qualitativ hochwertigen, realistischen Roman interessiert. „Selbst die schlechteste Fantasy-Literatur hat erkennbare Bezüge zur Realität“, sagt die Kölner Literaturwissenschaftlerin  Gabriele von Glasenapp. Ob Politik, Gender, Mobbing, Liebe oder Umwelt – es gibt kein Thema, das in diesen fantastischen Welten nicht behandelt wird. Fantasy schafft es, reale Probleme unserer Zeit spannend zu verpacken und Kindern näher zu bringen – ohne dass die sich belehrt fühlen.

 Um zu unserer Ausgangsfrage zurückzukommen: Einen adäquaten Ersatz oder Nachfolger für Harry Potter gibt es nicht, da sind sich alle einig. Das ist die schlechte Nachricht.

Titeln eine Chance geben

„Eine Fantasy-Erzählung, die so ausdifferenziert ist, und die alle Altersklassen anspricht, gibt es kein zweites Mal. Harry Potter ist ein kulturelles Phänomen“, erklärt Gabriele von Glasenapp. Aber braucht es überhaupt einen Ersatz? „Ich suche ja auch nicht nach einer zweiten Pippi Langstrumpf oder einer zweiten Alice im Wunderland“, sagt Literaturkritikerin Wegmann. Die gute Nachricht ist: Es gibt sie tatsächlich, die gute Fantasy-Literatur neben Harry Potter. Rowling selbst mag „Die Chroniken von Narnia“. In der „Unendlichen Geschichte“ kämpft ein dicker, unglücklicher Junge gegen etwas, das noch schlimmer ist als das Böse, nämlich das Nichts. Und was man gerne schon mal vergisst: Philip Pullmanns hervorragende Trilogie „Der goldene Kompass“.

Unterdessen wirbt Buchhändlerin Thea Wittmann dafür, aktuellen Titeln eine Chance zu geben. „Bei Harry Potter wusste man vorher ja auch nicht, wie es ankommt. Wenn alle weiter die altbekannten Geschichten gelesen hätten, hätten wir Harry nie entdeckt. Wir sollten neugierig bleiben und neue tolle Bücher entdecken“, fordert sie. Damit die Kinder glücklich lesen – bis ans Ende ihres Lebens. In der steten Hoffnung, dass eines Tages eine Eule kommt. Mit einem Brief aus Hogwarts im Schnabel, adressiert an: den Schrank unter der Treppe. In 50735 Köln.

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