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Interview mit ExpertinWie Eltern mit dem Streit der Kinder umgehen sollten

Lesezeit 6 Minuten
Streit Geschwister

Es darf auch laut werden: Streit zwischen Kindern ist normal und auch sinnvoll.

  • Eltern wünschen sich Harmonie und wollen gegen die Balgereien vorgehen
  • Warum Streit auch gut sein kann, erklärt Expertin Susanne Mierau im Interview

Köln – Dass Kinder oft und lautstark streiten, lässt Eltern verzweifeln. Dabei ist ständiger Friede auch keine Lösung. Über Strategien zur Konfliktbewältigung sprach Regine Seipel mit der Kleinkindpädagogin Susanne Mierau.

Frau Mierau, alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder friedlich zusammen spielen. Warum ist das so schwierig?

Weil es nicht gut ist, wenn sie das immer tun. Es entspricht nicht ihren Entwicklungsbedürfnissen. Kinder brauchen ein Lernfeld für Konfliktmoderation. Es ist eher das Problem von uns Eltern, dass wir uns wünschen, Kinder mögen immer friedlich und leise spielen. Dabei ist es auch gut, wenn sie streiten. Sie lernen, dass ihr Gegenüber andere Wünsche und Vorstellungen hat. Damit müssen sie sich auseinandersetzen und gemeinsam gute Lösungsmöglichkeiten finden. Das brauchen sie für das spätere Leben, egal ob auf der Arbeit oder in der Partnerschaft.

Und wo lernen Einzelkinder das?

Auch im Zusammensein mit anderen Kindern. Das ist manchmal umständlicher, weil solche Kontakte organisiert werden müssen und dann bei den Treffen meistens die Eltern immer dabei sind. Auch deswegen ist es toll, Geschwister zu haben. Eltern, die nur ein Kind haben, müssen also umso mehr darauf achten, dass sie ihr Kind nicht die ganze Zeit bespielen, sondern ihm genauso auch Freiraum lassen.

Bereits in der Krabbelgruppe geht es mit dem Streit um das schönste Kuscheltier los. Soll man da schon das Verhandeln üben?

Nein, man muss sich die Fähigkeiten des Kindes vor Augen führen. Wenn es mit eineinhalb Jahren ein Spielzeug haben will, denkt es ja erst mal, dass alle anderen seinen Wunsch teilen. Die Fähigkeit, sich in jemand anderes hineinzuversetzen, entsteht nach und nach um das dritte Lebensjahr, je nach

Entwicklungsstand und in mehreren Phasen. Erst dann kann ein Kind wirklich realisieren, dass sein Gegenüber andere Wünsche hat und die Welt anders sieht.

Also müssen Erwachsene im Kleinkindalter den Schiedsrichter geben?

Das kommt auf die Situation darauf an. Ich kann versuchen, abzulenken, eine Alternative anzubieten, und hoffen, dass sich das andere Kind beruhigt. Wir versuchen ja oft, Kindern so früh wie möglich das Teilen beizubringen, das hat in diesem Alter noch wenig Sinn. Im Gegenteil: Der Konflikt, der ursprünglich zwischen Kindern existierte, überträgt sich auf die Eltern-Kind-Beziehung. Wir streiten uns mit dem Kind, weil es sich mit einem anderen gestritten hat.

Wie sollte man stattdessen reagieren?

Das Kind möchte eben gerade sein Lieblingsspielzeug nicht hergeben, das ist auch vollkommen in Ordnung. Am besten nimmt man solche Sachen in Situationen, die schwierig werden könnten – zum Beispiel auf den Spielplatz – gar nicht erst mit und erklärt dem Kind: Lass das, was Dir so wichtig ist und Du nicht teilen möchtest, doch lieber zu Hause. Wenn Besuchskinder zu Gast sind, können Lieblingssachen – vorher besprochen – auch für die Zeit des Besuchs auf den Schrank wandern.

Wenn man sich mit älteren Leuten unterhält, war Kinderstreit vor 50 Jahren kein Erziehungsthema. Heute gibt es viele Ratgeber und viele Eltern klagen über häuslichen Dauerstreit. Waren die Kinder früher friedlicher?

Nein, die Kindheit hat sich stark verändert. Der Aktionsradius der Kinder zum Spielen ist im Gegensatz zu früher sehr klein geworden. Deswegen findet Kindheit inzwischen viel mehr vor den Augen der Eltern statt. Sie bekommen jeden Streit mit, den Kinder früher draußen unter sich ausmachen konnten. Auch beengter Innenraum mit zu wenig Entwicklungs- und Spielmöglichkeiten kann zu Konflikten führen. Und wenn die Eltern daneben sitzen, wird letztendlich auch ihr Bedürfnis nach Entspannung gestört. Daher neigen sie dazu, viel zu früh einzugreifen, was zu weiterem Ärger führen kann.

Was passiert?

Es heißt dann: Warum streitet ihr dauernd? Jetzt geht jeder in sein Zimmer und macht die Tür zu. So entstehen aus einer Überforderungssituation der Eltern weitere Konflikte und negatives Erziehungsverhalten aus dem Stress heraus. Es kann aber keine Lösung sein, die Kinder in ihre Zimmer zu schicken. Davon lernen sie ja nichts.

Sollten Eltern schlichten?

Erst mal sollten sie beobachten, ob die Kinder das selbst regeln, und wenn das nicht gelingt, sollten sie unterstützend eingreifen. Das bedeutet aber nicht, eine Lösung vorzuschlagen, sondern die Kinder zu ermuntern, eigene Strategien zu entwickeln. Das heißt, man beschreibt die Situation neutral, fragt nach Vorschlägen, überlegt gemeinsam. Das hängt natürlich vom Alter der Kinder ab. Nur bei starken Übergriffen, also schlimmen Beschimpfungen oder körperlichen Verletzungen, sollte man einschreiten.

Raufen ist demnach tabu ?

Schwierig. Balgen als Spiel kann durchaus sinnvoll sein, weil die Kinder auch in der körperlichen Auseinandersetzung lernen. Aber wenn es in einen Kampf mit Verletzungen ausartet, können Erwachsene nicht zuschauen. Diese Unterscheidung erfordert viel Fingerspitzengefühl.

Manche Geschwister geraten ständig aneinander. Wie viel Streit ist normal?

Das ist sehr unterschiedlich und hängt auch davon ab, welche Temperamente in einer Familie zusammengewürfelt werden. Wenn zum Beispiel ein sehr introvertierter Junge eine sehr laute Schwester hat oder umgekehrt, entstehen quasi von Natur aus mehr Konflikte, weil der eine mehr Ruhe haben will als der andere oder der Extrovertierte oft frustriert ist, weil keiner mit ihm spielt. Harmonisieren Geschwister von ihrem Naturell her nicht so gut, muss man halt anfangs mehr Zeit für Moderation und Erklärungen aufwenden.

Wie beeinflussen Geschlecht und Alter von Geschwistern den häuslichen Frieden?

In der Forschung gibt es Anhaltspunkte, dass die so genannte Trotzphase bei Jungen stärker ausgeprägt sein kann als bei Mädchen, weil sie stärker Zuwendung einfordern. Ich würde aber nicht empfehlen, das Augenmerk auf die Geschlechtsunterschiede zu legen. Streit unter Geschwistern ist oft ein Wettstreit um materielle und emotionale Ressourcen der Eltern.

Aber auf die Seite des Schwächeren sollte ich mich als Elternteil nicht schlagen.

Sie können ja gar nicht objektiv sein. Sie waren nicht dabei und kennen die Vorgeschichte nicht. Deswegen ist es wichtig, nicht zu verurteilen. Und es macht auch keinen Sinn, nach Schuld und Ursachen zu forschen. Das schaukelt sich schnell hoch. Lieber trösten, wenn der Kleine zum Beispiel gehauen wurde, aber dann klar machen: Hab’ ich nicht mitbekommen, wie gehen wir jetzt damit um, was schlagt ihr vor? Das ist für beide Seiten deutlich entspannter.

Ab welchem Alter kann ich erwarten, dass Kinder ihren Streit alleine lösen ?

Naja, das dauert. Im Grundschulalter sollte da schon viel möglich sein, aber das Thema werden Sie nie ganz los. In der Pubertät nehmen Konflikte zwischen Geschwistern meist ab, dafür lösen sich die Kinder auf der anderen Seite stärker von ihren Eltern. Wir sollten erkennen, dass wir Konflikte in Beziehungen niemals komplett vermeiden müssen, egal in welcher Altersstufe. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.

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