68er in Köln (2)Rainer Kippe – Ein Leben im Protest

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„Wir wussten nicht, was kommt“: Rainer Kippe im Garten der Mülheimer Selbsthilfe.

„Wir wussten nicht, was kommt“: Rainer Kippe im Garten der Mülheimer Selbsthilfe.

Köln – „Ich habe unter Ungerechtigkeiten gelitten. Solange ich zurückdenken kann, hat mich das angetrieben.“ Rainer Kippe (74) sitzt auf seiner Dachterrasse, drei Stockwerke hoch über dem Gelände der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) an der Düsseldorfer Straße. Vor fast 40 Jahren hat er sie zusammen mit Freunden gegründet. Bis heute arbeitet er hier mit Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen, hilft ihnen, Fuß zu fassen mit niederschwelligen Arbeitsangeboten. Es ist sein Leben, sagt er.

Im Zentrum des Protestes: Das Bild zeigt Rainer Kippe (Mitte, linke Hand am Tisch) 1968 während der Rektoratsbesetzung.

Im Zentrum des Protestes: Das Bild zeigt Rainer Kippe (Mitte, linke Hand am Tisch) 1968 während der Rektoratsbesetzung.

Heute erinnert er sich an das Jahr 1968, „wo alles begann, und wo es auch in Köln anfing zu knistern“. Seine Augen funkeln, als er das sagt. Damals stand er kurz vor seinem ersten juristischen Staatsexamen. „Und dann wusste ich, wenn ich mich jetzt hinsetze und lerne, dann verpasse ich was. Also bin ich nicht mehr in die Vorlesungen gegangen.“

Zur Person

Der in der Nähe von Bayreuth aufgewachsene Rainer Kippe (74) stammt aus einer konservativ-protestantisch geprägten Familie. Sein Vater war Tierarzt. Nach vier Jahren Studium der Rechtswissenschaft brach er 1968 vor dem ersten Staatsexamen ab. Fünf Jahre später absolvierte er seinen Fachhochschulabschluss als Sozialarbeiter.

Im Rahmen seiner Uni-Laufbahn hat er unter anderem Arabisch gelernt und mehrere Bücher geschrieben. Die SSK Köln gründete er mit Lothar Gothe und anderen Helfern. (dhi)

Natürlich wurde Zuhause gefragt, was mit dem Studium denn nun werde. „Die verstanden nicht, was wir machten.“ Der Vater war schon tot, aber seine Mutter machte sich Sorgen. „Wir wussten ja auch nicht, was kommt.“ In Berlin, Frankfurt oder Heidelberg, da wurde rebelliert an den Unis. „Und in Köln? Da war gar nichts.“ Erbärmlich sei das gewesen, regt sich der 74-Jährige heute noch auf. An der Kölner Universität sei von der Politisierung in Deutschland und in Europa nichts angekommen, sagt Kippe. „Und wir wussten, hier musste was passieren.“

Am 30. Mai 1968 passierte dann etwas. Kippe und seine Sponti-Mitstreiter errichteten in der Nacht eine Barrikade am Haupteingang der Uni Köln – mit Brettern und zugeklebten Schlössern. „Wir wollten die Studenten einen Tag lang zwingen, sich mit unseren Themen wie den Notstandsgesetzen zu beschäftigen.“ Es sei chaotisch gewesen, was so gewollt war. Die Studenten mussten durch den Heizungskeller einsteigen, um in die Hörsäle zu kommen. Und dann haben sie mit ihren Professoren abgestimmt, dass dieser Streik illegal sei und sie ihn verurteilen. „So brav waren die Kölner Studenten damals drauf .“

Die wichtigere Aktion sei aber dann einige Monate später im November ’68 die Besetzung des Rektorats gewesen, so Kippe. Die „hohen Tiere“ der Uni hatten sich in die Räume des Max-Planck-Instituts zurückgezogen, um zu beraten, erzählt er. „Uns war klar: Wir müssen da jetzt rein. Und das haben wir auch gemacht – obwohl wir Angst hatten.“ Etwa 100 Studenten hatten er und seine Mitstreiter zusammenbekommen – die meisten davon Erstsemester. Um mutiger zu werden, hatten er zusammen mit seinem Freund Lothar Gothe und anderen Aktivisten dann die Parole „Das ist unser Rektorat“ im Chor angestimmt und immer wiederholt. Irgendwann konnte man das Plexiglas aus der Tür zum Rektorat entfernen und sei dann im Büro der Sekretärinnen gewesen. „Als die uns gesehen haben, sind die regelrecht geflüchtet. Sie haben zufällig die Tür zum Rektor aufgelassen und dann waren wir drin. Das war ein unglaublicher Triumph.“

SSK und SSM

Die von Rainer Kippe 1974 mitgegründete „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“ (SSK) diente zur Betreuung von obdachlosen Jugendlichen. Ihren „Fürsorgezöglingen“, wie sie die Jugendlichen nannten, gaben sie Struktur im Alltag und ein Dach über dem Kopf, zum Teil mit umstrittenen Hausbesetzungen in Köln.

Nach dem Ausscheiden beim SSK gründete Kippe im Jahr 1979 mit Freunden die „Sozialistische Selbsthilfe Mülheim“ (SSM) für Obdachlose und Langzeitarbeitslose. (dhi)

Nach den drei Tagen und zwei Nächten der Besetzung hatte man mehr erreicht als gehofft. „In der eigens anberaumten Abstimmung am darauffolgenden Montag hatten die Studenten tatsächlich für unsere Forderungen gestimmt. Danach sind Debatten über politische Themen, aber auch über die Demokratisierung der Uni geführt worden, die es vorher nicht gab.“ Noch heute regt sich Kippe auf, dass „die Verhältnismäßigkeit bei den verbalen Reaktionen und Strafen völlig aus den Augen verloren“ worden sei. „Ich habe am Ende 13 Strafverfahren am Hals gehabt wegen der Streik- und Besetzungsaktionen – der heftige Vorwurf: Rädelsführerschaft beim Stören des Landfriedens. Die waren doch die Erwachsenen. Wir waren junge Leute.“ Dass im Jahr drauf dann die Amnestie erlassen und alle Verfahren eingestellt wurden, wusste man ja zu dieser Zeit nicht. Der Druck sei daher groß gewesen – bei allen, die dabei waren.

Schon während der „wilden Jahre“ an der Hochschule betreuten Kippe und und Lothar Gothe obdachlose Jugendliche. Als manche nach mehr Gewalt riefen und „Steine schmeißen“ forderten, sprachen sich beide dagegen aus. „Wir hatten Verantwortung für unsere Jugendlichen. Ohne uns wären sie wieder schutz- und obdachlos gewesen.“ Letztlich habe man diesen Leuten viel zu verdanken, wird Kippe ernst. „Ohne unsere Fürsorgezöglinge wäre es bei mir und Lothar vielleicht anders gelaufen“, deutet er das dunkle Kapitel der gewaltbereiten 68-Generation in den 70er und 80er Jahren an.

Die Arbeit in der 1974 gegründeten Betreuungseinrichtung „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“ (SSK) sei aber von Anfang an kompliziert gewesen: Die Kämpfe mit der Stadt, die Widerstände, der Verlust von Freundschaften durch politische Brüche in der linken Szene der 70er Jahre – das alles sei nicht einfach gewesen. Es sei viel gestritten worden um den richtigen Weg, erinnert sich Kippe. „Aber Lothar und ich waren selbstbewusst damals und von unserem Projekt überzeugt. Wir halfen jungen Leuten, die andere längst aufgegeben hatten, wieder ein einigermaßen strukturiertes und würdigeres Leben zu führen. Darauf bin ich stolz.“ Dass es dann 1979 zum Bruch mit Lothar Gothe gekommen ist, sei bedauerlich. „Aber sonst wäre nicht das SSM entstanden, dass mein Leben bis heute ausfüllt“, blickt Kippe auf diese prägende Zeit zurück.

Natürlich habe sich vieles verändert seit 1968. „Ich habe gelernt, mit den Leuten zu reden – was auch viel wirksamer ist, als draufzuhauen.“ Dennoch könne er immer noch auch anders. „Wenn es sein muss, stelle ich mich auch heute noch in den Weg und trete den Mächtigen auf die Füße.“

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